DER SPIEGEL 44-1979 (S.150-162)
Ein Volk, zu schwach zum Weinen
Holocaust in Kambodscha, doch der Krieg geht weiter
In wenigen Tagen ist wieder Krieg in Kambodscha.
Die Monsunregen werden nachlassen, das Wasser, das in schmutzigen Tümpeln
Kambodschas geschundene Erde bedeckt, wird versickern.
Das ist der Zeitpunkt, auf den die Vietnamesen gewartet haben, um ihre
Panzerverbände in den entscheidenden Endkampf zu schicken und das Land am Mekong
ganz unter ihre Gewalt zu bringen.
Ein Land? Ein Friedhof eher von staatsweiten Dimensionen. Kambodschas Volk liegt
im Koma, stirbt an Hunger und Seuchen.
Die Hilfe aus den westlichen Überflußgesellschaften, die erst jetzt anrollt,
kommt zu spät — wenn sie Kambodschas Menschen überhaupt erreicht.
Die Berichte unvoreingenommener Beobachter, meist Vertreter westlicher
Hilfsorganisationen und einige wenige Journalisten, die es schafften, vor Ort zu
gelangen, bestätigen die Aussagen der Flüchtlinge, die sich nach Thailand
durchschlagen konnten, und ergeben insgesamt ein trostloses Bild des Elends, wie
es in der neuesten Geschichte ohne Beispiel ist.
Nach zehn Jahren Krieg und Verwüstung, nach amerikanischem Bombardement und
vietnamesischem Einmarsch, nach den Regimes des korrupten Generals Lon Nol und
des menschenverachtenden Khmer-Rouge-Führers Pol Pot ist es soweit: Das
endgültige Ende ist nahe — ein Volk stirbt.
Die meisten sind schon tot. Von den einstmals über sieben Millionen
Kambodschanern sind nur noch dreieinhalb Millionen am Leben geblieben; die
westlichen Samariter-Organisationen kalkulieren von vornherein, nur 2,5
Millionen Menschen beistehen zu können — was für Menschen?
„Das soll ein Mensch sein?" fragte entsetzt ein neuangekommener westlicher
Reporter, als er ein zuckendes, nur noch von Haut überspanntes Gerippe vor sich
liegen sah, einen der sterbenden Kambodschaner.
Und überall im Land bietet sich das gleiche Bild: ausgemergelte Menschen, deren
Arme und Beine sich mit zwei Fingern umspannen lassen, Kinder mit aufgeblähten
Hungerbäuchen, die Rippen scheinen sich durch die Haut des Brustkorbs zu bohren,
Säuglinge, die kleinen Skeletten gleichen und verzweifelt an der Brust der
Mutter saugen, die schon lange keine Milch mehr für sie hat.
„Ich lasse es saugen", flüsterte die 32jährige Kambodschanerin Him Eung, die
sich selbst kaum noch auf den Beinen halten kann, einem Journalisten zu und
drückte ihr Baby an sich, „dann schreit es wenigstens nicht."
Aber die meisten Kinder haben dazu ohnehin keine Kraft mehr. „Der Anblick von
winzigen, am Hunger dahinsterbenden Kindern, die ganz still dastehen, zu schwach
sogar zum Weinen, bricht einem das Herz", schrieb eine amerikanische
Quäker-Delegation, die im September das Land besuchte.
Solcher Anblick wird wohl nicht mehr lange die Nerven ausländischer Helfer
strapazieren, denn nur wenige Kinder unter fünf Jahren sind noch am Leben. Die
anderen werden, auch wenn es ihnen gelingen sollte, mit dem Leben davonzukommen
— und die Aussichten sind niedrig, nach Schätzungen von Fachleuten wird
höchstens ein Kind unter hundert das Pubertätsalter erreichen —, für immer an
den Folgen der Unterernährung laborieren, an Gehirn- und Organschäden.
Durch Schock, Hunger und Strapazen sind überdies zahlreiche Frauen unfruchtbar
geworden. Auf zehn Todesfälle kommt heute höchstens eine Geburt.
„Sehr häufig", so berichtet die französische Nonne Francoise Vander-meersch, die
unlängst mit einer Delegation des „Französischen Komitees für medizinische und
sanitäre Hilfe für Kamputschea" das Land bereisen durfte, „haben die Frauen, die
noch ein Kind empfangen können, nach einigen Wochen oder Monaten der
Schwangerschaft eine Fehlgeburt." Es gibt aber keine Brutkästen für
Frühgeburten, keine Windeln, nicht einmal Lumpen.
Der Tod ist die Regel in Kambodscha, das Leben die Ausnahme;
denn Krankheiten, deren Bekämpfung in medizinisch normal versorgten Ländern
keinerlei Probleme aufwirft, wachsen sich in Kambodscha, wo auf Anweisung Pol
Pots alle Medikamente vernichtet wurden, zu regelrechten Seuchen aus.
Es gibt nicht einmal sauberes Wasser, denn auch die Trinkwasserversorgung ist,
wie alles andere, völlig zusammengebrochen. Ihren Durst stillen die Menschen mit
der erdigen Brühe jener Tümpel, die der Monsunregen entstehen ließ. Was
geschehen wird, wenn jetzt die Trockenzeit anbricht, das wagt sich niemand
auszumalen.
Zu ungezählten Tausenden liegen von Malariaanfällen geschüttelte Menschen in
notdürftigen Hospitälern, gehen elend zugrunde an Wurmkrankheiten und am Typhus,
ohne daß ein Arzt sie auch nur gesehen hätte; denn es gibt im ganzen Land nur
noch 50 Mediziner. Die anderen sind geflohen oder als Intellektuelle von den
Roten Khmer umgebracht worden.
Ein früherer Apotheker erzählte von einem schrecklichen Lehrgang, in dem man
versuchte, Bauern medizinisches Grundwissen beizubringen. Der Apotheker sah, wie
in einer früheren Pagode offensichtlich gesunde Männer, die man von den
Reisfeldern geholt hatte, an Tische gebunden waren. Schulungsleiter öffneten
ihnen den Bauch und erklärten, wie Leber, Herz und Lunge arbeiteten — bis die
menschlichen Versuchskaninchen starben.
Aus eigener Kraft können die Kambodschaner sich nicht mehr helfen. Sie sind
bereits zu schwach dazu, die Felder zu bestellen oder zu ernten. Woher auch
sollen sie die Kraft haben bei einer Reisration von 200 Gramm in der Woche?
In dem Land, das einst Reis im Überfluß produzierte, ist das asiatische
Grundnahrungsmittel heute kostbarer als Gold; längst schon ist das gesamte
Saatgut aufgezehrt.
Verzweifelt klettern diejenigen, die noch Kraft haben, auf Tamarindenbäume und
stopfen sich die Blätter in den Mund. Andere wühlen in der Erde nach eßbaren
Wurzeln. Tiere, die man schlachten könnte, gibt es nicht mehr. Katzen und Hunde
sind im ganzen Land nicht mehr zu finden.
Der Hunger führte schließlich sogar zum Kannibalismus. Eine Französin, mit einem
Pol-Pot-Anhänger verheiratet: „Ich sah, wie regelmäßig Männer in den Wald
geführt wurden. Eines Tages folgte ich ihnen und versteckte mich im Dickicht.
Nun sah ich es: Die Männer wurden einer nach dem andern mit gespreizten Armen
und Beinen an Bäume gebunden, und mit einem Messer schlitzten die Pol-Pot-Männer
ihnen den Bauch auf, um die Leber herauszureißen und sie über einem Holzfeuer zu
braten."
Elend, Trostlosigkeit, langsamer, unaufhaltsamer Tod eines ganzen Volke — die
Kambodschaner können bis heute nicht fassen, was da mit apokalyptischer
Unerbittlichkeit über sie hereingebrochen ist.
Über Jahre, Jahrzehnte hatten sie in Frieden gelebt, als um sie herum schon der
Indochina-Krieg lärmte, freundliche Menschen in einem kleinen Land mit üppiger
Vegetation und reichen kulturellem Erbe, Touristenziel noch, als in Vietnam
schon Hunderttausende GIs kämpften.
In Frieden lebten sie auch noch, als im Januar 1969 Richard Nixon Präsident der
Vereinigten Staaten wurde — Kambodschas Prinz Norodom Sihanouk hatte sein
Königreich durch rund 20 Jahre Vietnam-Krieg praktisch unversehrt
hindurchgeschaukelt (siehe SPIEGEL-Gespräch Seite 164).
Gewiß, Hanois Nachschublinien verliefen durch das östliche Kambodscha; aber
Sihanouk ließ die mächtigen Nachbarn gewähren, und die ließen dafür den Rest
seines Landes in Frieden.
Richard Nixon und seine Berater jedoch waren überzeugt, der Schlüssel zum Sieg
in Vietnam liege ausgerechnet in Kambodschas Grenzprovinzen.
Zwei Monate nach seinem Amtsantritt bereits verordnete Nixon dem Grenzgebiet ein
Bomben-„Menü" (siehe Seite 223)
Von da zum totalen Krieg war es nur n kleiner Schritt: Gut ein Jahr später —
Sihanouk gestürzt, am Ruder der hilflose, korrupte Putschist Lon Nol — brannte
auch Kambodscha.
Innerhalb von 14 Monaten flogen amerikanische B-52-Superbomber 3695 Einsätze und
luden 105 837 Tonnen Sprengstoff über Kambodscha ab. Jede der Bombenfrachten riß
nach dem Aufschlag einen 700 Meter breiten und zweieinhalb Kilometer langen
Krater.
Als Nixon 1974 zurücktrat, war Kambodscha zerstört, waren — nach vorsichtigen
Schätzungen des US-Senats — 500 000 Kambodschaner den Angriffen zum Opfer
gefallen.
Jubelnd begrüßten die Kambodschaner 1975, als die Kommunisten überall in
Indochina gewonnen hatten, in der Hauptstadt Pnom Penh die Kämpfer der Roten
Khmer.
Doch der Jubel dauerte nur wenige Stunden. Dann wurden die Bewohner der
Hauptstadt, rund zwei Millionen Menschen, gnadenlos aus ihren Häusern vertrieben
auf einen langen Marsch ins Ungewisse, auf den sie nur mitnehmen durften, was
sie am Leibe trugen.
Wie betäubt gehorchten sie, noch unfähig zu begreifen, was die neuen Herren
unter dem Zuchtmeister Pol Pot mit ihnen vorhatten. Als sie zur Besinnung kamen,
war es zu spät — wenn ihnen die Roten Khmer überhaupt Zeit ließen, sich zu
besinnen.
Denn von morgens bis abends mußten sie auf den Feldern arbeiten und danach zur
ideologischen Schulung. Es gab, so lernten sie, künftig nur noch ein einziges,
ein oberstes Prinzip: „Angka".
Und „Angka", der „Organisation" der neuen Herrschenden, zu gehorchen, bedeutete:
Rückkehr zum primitivsten Leben, ohne Maschinen, ohne Geld, aber auch ohne
Todesurteile, Mord, das Ende der traditionellen Gesellschafts- und
Familienstrukturen.
„Wir wollen etwas verwirklichen", erklärte Pol Pots Außenminister Ieng Sary 1977
dem SPIEGEL, „was es noch niemals in der Geschichte gegeben hat."
Wahrhaftig, der unerbittliche Würgegriff, mit dem die Roten Khmer ihr Volk
umklammert hielten, ließ sogar George Orwells Visionen vom Großen Bruder harmlos
erscheinen.
Aber der Todeskampf des Volkes begann erst um die Jahreswende 1978/79, als die
Vietnamesen — nun darauf bedacht, ganz Indochina von Hanoi aus zu regieren — in
das Land ihres historischen Erzfeindes einmarschierten. Und sie wollten offenbar
nicht nur das Land besetzen, sie wollten gleich auch das Volk der Khmer vollends
ausrotten. „Völkermord", empörte sich die „Washington Post", „lautet offenbar
die Parole." Holocaust in Südostasien.
Chea Sok, ein Flüchtling, beschrieb die Lage: „Nacheinander haben wir
Reiskulturen in Leach, Bavel, Pailin und einigen anderen Orten im Nordwesten
angelegt. Jedesmal kamen die Vietnamesen, griffen uns an und zerstörten alles."
Die wenigsten der bebauten Felder — nur elf Prozent der Anbaufläche wurden
überhaupt bestellt — konnten abgeerntet werden. Noch existierende Reisvorräte
beschlagnahmten die Roten Khmer von Pol Pot; was dann noch übrigblieb, nahmen
die Vietnamesen. Die Bevölkerung flüchtete vor dem Krieg in den unzugänglichen
Dschungel — und in noch mehr Elend: In den Urwaldverstecken ließen sich keine
Felder anlegen.
Das Ausmaß der heraufziehenden Katastrophe wurde im Westen zunächst nicht
erkannt oder nicht zur Kenntnis genommen, war bestenfalls Gegenstand
legalistischer Betrachtungen. Wie die „Auskünfte eines Rechtsanwalts aus einer
Geschichte von Charles Dickens" kamen der „New York Times" die Worte vor, die
Präsident Jimmy Carter noch Anfang Oktober zur Situation in Kambodscha fand.
„Wir versuchen einen Mechanismus zu erarbeiten", sagte Carter, „durch den die
Vereinten Nationen, vor allem das Rote Kreuz und Unicef, den Leuten, die sich in
Kambodscha befinden, Nahrungsmittel zukommen lassen können. Im Zusammenhang mit
dem Flüchtlingsfonds stellt sich auch ein rechtliches Problem, denn es ist
juristisch noch nicht entschieden, ob eine Person, die das Land nicht verlassen
hat, als Flüchtling anzusehen ist."
Eine knifflige Frage, fürwahr. Dahinter stand die Tatsache, daß sich die USA mit
ihrer Kambodscha-Politik selbst in eine Sackgasse manövriert hatten. Denn Heng
Samrin, von den Vietnamesen neu eingesetzter Machthaber, machte seine Zustimmung
zur Hilfe für das Volk von der Anerkennung seines Regimes abhängig.
Dafür aber fand sich auf der 34. Generalversammlung der Vereinten Nationen keine
Mehrheit.
Neben anderen, darunter die Bundesrepublik, erkannte auch die Regierung des
Menschenrechts-Kreuzzüglers Jimmy Carter das blutige Regime Pol Pots als einzige
rechtmäßige Regierung Kambodschas an.
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* Am Kopfende des Bettes hängt noch das einem Opfer ausgerissene Haar.
Noch im April hatte sich Carter in einer ganz ähnlichen
Frage anders entschieden. Damals war Tansania in Uganda einmarschiert und hatte
das Regime des blutrünstigen Diktators Idi Amin durch eine Regierung von eigenen
Gnaden ersetzt. Die westliche Anerkennung folgte, fast ohne Diskussion,
postwendend. Allerdings befand sich Tansania im Gegensatz zu Hanoi auch nicht
eindeutig im sowjetischen Fahrwasser.
Hinzu kam, daß die Chinesen massiven Druck auf Washington ausübten. Alles, was
nach einer Normalisierung der Beziehungen zwischen den USA und Vietnam aussehe,
werde die Kriegsgefahr in der Region nur verstärken, warnten sie
US-Vizepräsident Mondale, als er im August auf der Suche nach einem
Kambodscha-Kompromißfrieden in Peking sondierte.
Carter beschloß daraufhin, die USA würden nicht, wie ursprünglich geplant, der
Uno-Abstimmung fernbleiben, sondern sogar für Pol Pot stimmen, den sie nicht
lange zuvor als schlimmsten Verächter der Menschenrechte gebrandmarkt hatten.
Das elementarste Menschenrecht der Kambodschaner — das Recht auf Überleben —
wurde dabei außer Kraft gesetzt.
In Wahrheit war auch keine der am Konflikt beteiligten Parteien sonderlich daran
interessiert, um jeden Preis kambodschanische Zivilisten zu retten.
Nicht Pol Pot, der schon von jeher die Ansicht vertreten hatte, zwei Millionen
Menschen reichten aus, um seinen neuen Staat aufzubauen.
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Und auch nicht die Vietnamesen. Sie schafften, was immer
der Zerstörungswut der Roten Khmer entgangen war, in Lastwagen nach Vietnam.
Als bei einem solchen Vorfall einige Kambodschaner bei ihren „Befreiern" Protest
einlegten, griff sich der vietnamesische Kommandant etwa 50 der Aufmüpfigen,
sperrte sie in eine Scheune und ließ die dann in Brand stecken. My Lai — diesmal
anders herum.
Vietnam ist offensichtlich mehr an Eroberung als an Befreiung interessiert.
Politoffizier Son vom 16. Regiment etwa soll zu seinen Soldaten in der
kambodschanischen Stadt Kampong Cham gesagt haben: „Die
kambcdschanisch-vietnamesische Grenze existiert nicht mehr. Laoten,
Kambodschaner und Vietnamesen sind Mitglieder einer einzigen Familie."
Vietnamesische Bauern sollen denn auch schon in die leeren eroberte Landstriche
nachgerückt sein. Kambodscha heißt bei ihnen „Annam Moi' benannt nach dem
historischen indochinesischen Kaiserreich Annam.
Die kambodschanische Bevölkerung wird auf Landstriche zusammengedrängt, wo sie
leicht zu überwachen ist. Feldbestellung ist verboten, damit nicht
möglicherweise den Kämpfern Pol Pots Nahrungsmittel in die Hände fallen.
Aus diesem Grund zögerte auch Heng Samrin, Hanois Mann in Kambodscha, wochenlang
die Hilfsorganisationen Unicef und Rotes Kreuz überall im Land Lebensmittel und
Medikamente im großen Stil verteilen zu lassen.
Samrin bestand darauf, daß alle Güter in die Hauptstadt Pnom Penn geschafft
werden sollten. Die Verteilung müsse seiner Regierung überlassen bleiben.
Damit aber waren die westlichen Samariter nicht einverstanden. In zähen
Verhandlungen setzten sie schließlich durch, daß sie auch die Verteilung in der
Hand behielten, um sicherzustellen, daß wenigstens ein Bruchteil der notwendigen
Hilfe von rund 900 Tonnen Hilfsgütern täglich die Bevölkerung erreicht.
Doch auch dafür gibt es keine Gewähr. Etliche Anzeichen sprechen dafür, daß ein
großer Teil der Hilfe bei den rund 200 000 vietnamesischen Soldaten landen wird.
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So fordern die Vietnamesen in den Dschungelgebieten per Lautsprecher die
Gefolgsleute Pol Pots zum Überlaufen auf. Sie hätten genug zu essen und
reichlich Medikamente für alle, versprechen sie.
Wie die Lebensmittel zu der hungernden Bevölkerung transportiert werden sollen,
ist allen Beteiligten noch unklar. Es fehlt in Kampong Som, dem einzigen
Tiefwasserhafen des Landes, an Kränen und Vorrichtungen zum Entladen der
Schiffe. Die Kambodschaner sind inzwischen so entkräftet, daß sie keinen Sack
mehr heben können.
Ein Mitglied der sowjetischen Botschaft bestätigte der Nonne Vandermeersch: „Ich
habe in Kampong Som einen Frachter mit 13 000 Tonnen Reis in Empfang genommen.
Aber leider gibt es keine Hafen-Infrastruktur mehr, und die Säcke sind zu
schwer. Sie können von den zu schwachen kambodschanischen Hafenarbeitern nicht
getragen werden."
„Das einzige verfügbare Arbeitswerkzeug waren Greifhaken, die aber schlitzten
die Säcke auf. Die Bevölkerung und die Ratten stürzten sich auf den
ausgeschütteten Reis. Auch wenn es gelingt, den Reis zu entladen — es gibt kein
Silo für die Lagerung, keine Lkw für den Transport."
Dazu kommen Schwierigkeiten, mit denen vorher niemand gerechnet hatte, die aber
beweisen, in welchem Ausmaß Pol Pot das Land systematisch zerstört hat. Es fehlt
nicht nur die Nahrung — es fehlt auch an Kochtöpfen. Denn alle Menschen sollten
in Volksküchen ernährt, privates Kochgeschirr mußte vernichtet werden.
Fast alle Straßen wurden zerstört: Um das Land — auch das Pol Pots radikale
Ideologie des Steinzeit-Kommunismus — wieder in den Naturzustand
zurückzuversetzen, ließ der Rote-Khmer-Chef im Abstand von einem Kilometer
Gräben von einer Straßenseite zu anderen ziehen — zur Reisbewässerung.
Aus diesem Grund aber ist der Einsatz von Lastwagen — die Hilfsorganisationen
ließen schon hundert nach Pnom Penh fliegen — nur auf wenigen Strecken möglich.
Ob es die Entkräfteten aber schaffen, zu den Verteilungsstellen zu wandern, ist
fraglich.
Zweifelhaft ist aber auch, ob die Hilfe per Schiff je ankommt. Aus Angst vor
Überfällen durch schwerbewaffnete thailändische und malaysische Piraten
schwiegen die Vertreter der Hilfsorganisationen über die Routen der
Reisfrachter. „Doch wenn sie den Funk abhören", enthüllte unvorsichtig die „New
York Times", „können die Piraten leicht dahinterkommen, daß praktisch alle
Kambodscha-Hilfe per Schiff über Singapur geleitet wird."
Unmöglich werden könnte die Kambodscha-Hilfe aber auch, wenn mit dem Ende der
Regenzeit die Kämpfe neu entflammen. Noch gibt sich Pol Pot nicht geschlagen.
Etwa 20 000 fanatische Kadersoldaten hören noch immer auf sein Kommando. Sie
operieren entlang der thailändischen Grenze, über die sie sich, sobald sie in
Bedrängnis geraten, rasch zurückziehen können.
Die Thais haben nichts dagegen. Im Gegenteil: Die vietnamesischen Truppen so
nahe an der Grenze haben die Thais in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Die
Furcht geht um, Thailand sei nach Kambodscha bereits als der nächste Dominostein
ausersehen, der unter dem Ansturm Hanois fallen soll. Jeder, der sich den
Vietnamesen entgegenstellt, ist den Thais willkommen.
Die Roten Khmer finden jenseits der Grenze Zuflucht und können sich für den
weiteren Kampf erholen und stärken. Sie eskortieren dabei auch Zivilisten, deren
Beaufsichtigung ihnen im Kampfgebiet ohnehin lästig fallen würde, ins
Nachbarland.
So existieren — eine bittere Ironie der Geschichte — im sogenannten freien
Thailand Lager, in denen noch immer die Roten Khmer die Aufsicht führen, als
seien sie bei sich zu Hause in Kambodscha. Die halbverhungerten, kranken
Untergebenen der Khmer müssen nach allem, was sie hinter sich haben, in Reih und
Glied zum Essensempfang antreten. Und wer nicht pariert, bekommt nichts zu
essen.
Soviel Disziplin nötigt den thailändischen Militärs, denen die Oberaufsicht über
die Flüchtlingslager obliegt, kollegiale Bewunderung ab. „Ich sage nur — einfach
toll", rief unlängst ein Thai-Hauptmann aus.
Unter thailändischem Schutz und Schirm steht, auch das halbe Dutzend rechter
kambodschanischer Partisanen-Gruppen (Khmer Serei), die angeblich teilweise mit
dem von den Roten Khmer gestürzten Diktator Lon Nol sympathisieren. Es sind
zusammen etwa 6000 Mann. Sie haben zum Teil am Schmuggel gut verdient, sind gut
bewaffnet, gut genährt und bereit, gegen die Vietnamesen anzutreten.
Die wichtigste Gruppe unter ihnen bildet die „Nationale Front zur Befreiung des
kambodschanischen Volkes", die von dem Sihanouk-Parteigänger Son Sann geführt
wird. Sann, 67, mehrmals Premier und Minister unter dem Prinzen Sihanouk, hatte
ursprünglich vor, gegen die Roten Khmer und gegen die Vietnamesen anzutreten.
Jetzt hat er seine Ziele etwas bescheidener gesteckt und eingewilligt, nicht nur
die ideologischen Differenzen mit Pol Pot zurückzustellen, sondern sogar Seite
an Seite mit ihm bis zum Sieg über die Vietnamesen zu kämpfen.
Pol Pots Rote Khmer sind hocherfreut über die Verstärkung. „Die Khmer Serei",
pries Pol-Pot-Gefolgsmann Nop Eing die neuen Waffenbrüder, „sind gute Kämpfer.
Schließlich sind sie Kambodschaner und hassen die Vietnamesen auch."
Der unter den Kabodschanern weitverbreitete Haß auf die Eindringlinge veranlaßte
auch die Thailänder, ihre Haltung in der Flüchtlingsfrage zu überdenken. In dem
Maße, in dem die Vietnamesen näher auf die Grenze vorrücken, wurden die Thais
humaner gegenüber den Flüchtlingen aus dem Nachbarland.
Noch im Juni hatten sie 45 000 Kambodschaner, die sich auf thailändischem
Territorium schon in Sicherheit glaubten, mit Waffengewalt über die Grenze
zurückgetrieben.
Doch später geschah es immer häufiger, daß vietnamesische Einheiten
zurückweichende Rote Khmer bis auf thailändischen Boden verfolgten, und
inzwischen sind sogar schon vietnamesische Granaten in einem Flüchtlingslager
eingeschlagen.
Die westlichen Hilfsorganisationen dürfen jetzt die Kambodschaner in den
thailändischen Lagern — fast 200 000 Menschen — versorgen, und die Thais
erkannten den Ankömmlingen aus dem Nachbarland sogar offiziell den
Flüchtlingsstatus zu: Personen also, die Anspruch auf Schutz und Hilfe haben und
nicht zurückgeschickt werden dürfen.
Dahinter steht die Berechnung, daß viele Kambodschaner, nachdem sie sich erholt
haben, vielleicht doch wieder freiwillig zum Kampf gegen die Vietnamesen
zurückkehren. Außerdem ist es für die Thais einfacher, Waffenhilfe aus dem
Westen zu erhalten, wenn sie sich human zeigen. Die Waffen rollen auch prompt
an. Noch bevor auch nur ein Sack Reis an die hungernden Kambodschaner geschickt
wurde, kamen in dem südostasiatischen Königreich US-Panzer vom Typ M-48 A5,
Kampfflugzeuge vom Typ F-5E und anderes Kriegsgerät an — über eine
Waffen-Luftbrücke folgt ständig neues Material. Außerdem kreuzt die 7. US-Flotte
in nahen Gewässern.
Die kambodschanische Bevölkerung hat freilich andere Sorgen. Sie ist am
Überleben interessiert, nicht an Machtfragen. Die meisten sind zu mitgenommen,
um noch einen Anflug eigenen Willens zu zeigen. „Ich gehe, wohin man mich
schickt", sagt die Kambodschanerin Eung.
Nur wenigen ist das volle Ausmaß der Tragödie überhaupt bewußt. Zu ihnen gehört
Dith Pran, ein kambodschanischer Journalist. „Mein Volk stirbt", sagte er nach
seiner Flucht, „und zwar stirbt es nicht in einem dunklen Winkel, sondern unter
dem vollen Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit."