DIE ZEIT

Am Dal-See blüht die Hoffnung

Einst besuchten 600000 Touristen jährlich Kaschmir. Dann wurde das Tal Kriegsgebiet. Zaghaft kehren jetzt die ersten Touristen zurück

Von Ludwig Witzani

Das ist das wahre Shangri La«, sagt Mr. Ali, der Eigentümer von Shangloo Travel, und weist mit stolzer Gebärde über den See, dessen Umrisse am Horizont verschwimmen. »Es gibt keinen schöneren Platz in ganz Asien als das Tal von Kaschmir.«

Wir stehen am Ufer des Dal-Sees auf der Veranda eines Hausbootes, dessen Ausstattung einem kleinen Palast alle Ehre machen würde. Die geräumige Veranda ist mit Holzschnitzereien verziert, kostbare Teppiche liegen auf den Böden, zwei mächtige Chaiselongues stehen im Wohnraum, hinter dem sich ein Speiseraum in kolonialem Stil und zwei Schlafzimmer mit allen sanitären Einrichtungen befinden. Doch nicht das Interieur ist das Beeindruckende an den Hausbooten von Srinagar – es ist die Aussicht, die jeden Besucher verzaubert. Glatt und samtschwarz erstreckt sich der Dal-See wie ein kleines Meer im Südosten der Stadt. Durchsetzt mit Inseln aus Lotosblumen und begrenzt von sanft geschwungenen Hügeln gleicht er der fantastischen Landschaft einer alten Moghul-Malerei. Auf ihren bunt ausstaffierten Langbooten steuern die kaschmirischen Fährleute indische Touristen von den Hausbooten zum Uferboulevard. Händler, unterwegs zu einem der schwimmenden Märkte, und Arbeiter, die Holz oder Dung über den See transportieren, kreuzen ihre Bahn.

Der Nieselregen lässt Srinagar aussehen wie eine Illusion

Kaschmir ist immer schon etwas Besonderes gewesen. Das Tal liegt auf einer gigantischen Terrasse auf circa 1700 Höhenmetern, wo das Klima mild, die Luft klar ist. Der Sage nach vom indischen Kaiser Ashoka schon im 3. Jahrhundert vor der Zeitrechnung gegründet, gehörte die Stadt Srinagar ganz den Buddhisten, Hinduisten, Muslimen und Sikhs, bis schließlich die englischen Kolonialherren kamen. Sie waren es, die die Kultur der Hausboote auf dem Dal-See einführten. Denn den Erwerb von Landbesitz in Kaschmir hatte der Maharadscha Ausländern verboten.

Seit Jahrzehnten existiert Kaschmir nur als Krisengebiet, als Schauplatz von Unruhen und zwei Kriegen, die Indien und Pakistan darum führten. Doch in den Jahrhunderten zuvor herrschten hier Offenheit und Toleranz. Davon zeugt die Kultur der Region, die aus den unterschiedlichsten Einflüssen ihren ganz eigenen Stil gewann. So erklärt es jedenfalls Mehmet, unser Führer durch die Djama Masjid, die Freitagsmoschee von Srinagar, die bei all ihrer Imposanz auf den ersten Blick überhaupt nicht als Moschee erkennbar ist. Zwar sind mirhab und minrab, Gebetsnische und Kanzel, gen Mekka ausgerichtet, zwar erinnern die großen Eingangsiwane an die islamische Kunst Irans, doch die konisch nach oben zulaufenden Dachkonstruktionen sind eine Reminiszenz an das buddhistische Erbe von Tschörte und Gompa.

Wie fast immer im kaschmirischen Sommer fällt ein Nieselregen vom Himmel, als wir über den See setzen, um die Shalimar-Gärten im Norden der Stadt zu besuchen. Die Kaschmiris lieben den Regen, erzählt unser Fährmann. Regen nährt die Felder, er schluckt den Staub der Straßen und kühlt die Luft. Es ist ein Regen der Berge, kein Monsun und kein Wolkenbruch, sondern ein kaum merklicher Niederschlag, bei dem niemand auf die Idee käme, den Schirm aufzuspannen. Der Regen passt zu Srinagar. Er legt einen feinen Nebelschleier über die Konturen der Wiesen und Teiche, der Baldachine und Mauern der Shalimar-Gärten und lässt sie aussehen wie eine schöne Illusion.

Aber es gibt noch mehr, was die Aussichten Srinagars trübt. Es sind die indischen Soldaten aus Kerala, Tamil Nadu und Orissa, die schwer bewaffnet an allen strategisch wichtigen Punkten den Verkehr kontrollieren. Sie sind eines der Symptome des Bürgerkriegs, der in den achtziger Jahren begann, als die selbstherrliche indische Zentralregierung in Delhi die Teilautonomie der Provinz aufhob. Diese verhängnisvolle Fehlentscheidung war es erst, die den muslimischen Widerstandsgruppen in der Bevölkerung Rückhalt und dem pakistanischen Geheimdienst die Chance verschaffte, das Ergebnis zweier verlorener Kriege um Kaschmir zu korrigieren. Innerhalb kürzester Zeit wurde Kaschmir, Indiens touristische Boomregion Nummer eins, durch Bomben, Mord und Entführungen zum Bürgerkriegsgebiet – eine Eskalation, die bald ganze Divisionen der indischen Armee und eine verhängnisvolle Logik der Vergeltung und Abschreckung nach Kaschmir brachten. Zehntausende Kaschmiris wurden nun ihrerseits misshandelt oder verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Schließlich standen sich im Sommer 1999 die beiden Atommächte Indien und Pakistan in Kargil, nur eine Tagesreise nordöstlich von Srinagar entfernt, bis an die Zähne bewaffnet gegenüber, und einen Augenblick schien es, als führte der Streit um das Gebirgstal Kaschmir die Welt an den Rand eines Atomkriegs.

Paradoxerweise brachte die Katastrophe des 11. September 2001 die Wende. Der abrupte Kurswechsel Pakistans von einer Schutzmacht des Islamismus zum Verbündeten der USA im Kampf gegen den Terror begann den Nachschub der muslimischen Guerrillakämpfer zu beeinträchtigen. Nicht ohne von den Hardlinern in den eigenen Reihen immer wieder behindert zu werden, begannen der pakistanische Präsident Musharaff und sein indischer Widerpart, Ministerpräsident Vajpayjee, eine vorsichtige Diplomatie der Annäherung, die seit dem vergangenen Jahr immer greifbarere Formen zeigt.

»The winds of change are blowing«, sagt Mr. Ali und verweist darauf, dass seit Anfang 2003 die Zahl der Anschläge enorm zurückgegangen sei. Als neueste Phase der Deeskalation hätten die Inder im letzten Jahr endlich damit begonnen, ihre Soldaten in Kaschmir stärker an die Kandare zu nehmen. Das verhasste »indische Shoppen«, bei dem sich indische Soldaten in den Basaren von Srinagar bedienten, ohne zu zahlen, soll abgeschafft worden sein. Gewaltakte gegen die Bevölkerung würden bestraft.

Das sichtbarste Zeichen aber ist die wiederaufgenommene 434 Kilometer lange Busverbindung zwischen Srinagar und Leh, der Hauptstadt des indischen Teils von Tibet – eine bizarre Route, die mitten durch die Stellungen der indischen und pakistanischen Armeen führt. Manch einem mag es mulmig werden, wenn er aus dem Busfenster schaut und indische Soldaten hinter Mörsern und Sandsäcken sieht, aber bis jetzt wurde dieses mühsam errungene Niveau der Normalität noch nicht erschüttert. Und so kehren allmählich auch die Urlauber zurück.

Wenn die Geschäfte laufen, nimmt der Widerstand ab

Nach Auskunft des Touristenbüros von Srinagar hat sich der Fremdenverkehr 2003 mit 20000 Besuchern gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt. Die allermeisten stammen aus Delhi, Bombay oder Amritsar; doch auch gut 1000 ausländische Gäste wurden schon wieder gezählt. Von den glücklichen Zeiten der achtziger Jahre, als über 600000 Touristen jährlich das Tal von Kaschmir besuchten, ist man zwar noch weit entfernt. Trotzdem begrüßen die Hausbootinhaber, Ladenbesitzer, Textilhersteller, Fährbetreiber, Fremdenführer, Gastronomen und Taxifahrer dieses zaghafte Wiedererwachen des Fremdenverkehrs mit einer Vehemenz, die sogar die indischen Offiziellen überrascht.

Inzwischen scheinen manche der Verantwortlichen erkannt zu haben, dass der Widerstand der muslimischen Kaschmiris gegen die Zugehörigkeit zu Indien vieles von seiner Brisanz verliert, wenn nur die Geschäfte wieder laufen. Zwar macht Mr. Ali, der Besitzer des größten Tourismusunternehmens in Kaschmir, aus seiner Hoffnung auf Unabhängigkeit keinen Hehl. Aber wie die Dinge liegen, versucht er, aus der Zugehörigkeit zu Indien das Beste zu machen. »Einen Anschluss an Pakistan will hier kaum jemand«, meint er, »dafür ist zu bekannt, wie brutal die Zentralregierung dort mit ihren Minderheiten umspringt.«

Die ausländischen Gäste stammen zum größten Teil aus Ostasien. Seit dem Sommer 2003 haben aber auch italienische und französische Reiseveranstalter vorsichtig damit begonnen, Srinagar wieder in ihr Rundreiseprogramm aufzunehmen. Wann die deutschen Anbieter nachziehen, ist noch ungewiss. Die Veranstalter Studiosus und Ikarus wollen erst die weitere Entwicklung in diesem Sommer abwarten. »Es hofft keiner mehr als wir darauf, dass sich die Verhältnisse stabilisieren oder bessern«, sagt Rita Stappert, die verantwortliche Projektmanagerin von Ikarus. »Ein Zielgebiet wie Kaschmir gibt es kein zweites Mal.« Mr. Ali sieht das vermutlich genauso.

Information

Anreise: Srinagar ist per Flugzeug von Delhi, Amritsar oder Jammu aus zu erreichen. Die Busfahrt von Leh in Ladakh nach Srinagar dauert zwei Tage

Unterkunft: Hausboote der unterschiedlichsten Komfortstufen zu Preisen von umgerechnet 3 bis 30 Euro pro Nacht

Sicherheit: Das Auswärtige Amt rät zurzeit noch von selbst organisierten Touren nach Kaschmir ab. Auf der Website heißt es: »Wegen der Gefahr terroristischer Gewalttaten wird vor Reisen nach Jammu und Kaschmir gewarnt.« Wer jetzt schon eine Reise nach Kaschmir unternehmen möchte, muss sich des Risikos bewusst sein, sollte aber auf jeden Fall Exkursionen in die Randgebiete der Provinz außerhalb von Srinagar vermeiden

 

(c) DIE ZEIT 18.03.2004 Nr.13

13/2004