DuMont
Kunst-Reiseführer 3. Aufl. 1985
Das Speichenrad ist ein uraltes indisches Symbol und gehört zu den Sieben Kostbarkeiten (Saptaratna) eines Weltenherrschers (Cakravartin). Im frühen Buddhismus wurde das Rad zum Sinnbild des universellen Gesetzes und der Lehre (Dharma), die Buddha erstmals im Wildpark von Sarnath verkündete. Das Rad der Lehre (Dharmacakra) wird häufig von zwei knienden Gazellen oder Hirschkühen flankiert dargestellt und ist zudem das Attribut vieler Buddhas und lamaistischer Wesenheiten (Gottheiten).
In abgewandelter Form findet man das Rad als Mahnmal für die sechs oder
fünf Wiedergeburtsbereiche der Lebewesen als Götter, Halbgötter, Menschen,
Tiere, Hungergeister und Höllenwesen. Das Lebensrad oder Rad der Existenz
(Bhavacakra) ist in nahezu allen Klöstern Ladakhs - meist am Vorbau zum
Tschokhang oder Dukhang - aufgemalt und vielfach auch als Blockdruck zu sehen.
Seine Darstellung reicht in die Frühzeit des Buddhismus zurück und ist schon in
den Höhlenmalereien von Ajanta anzutreffen. Gautama Buddha selbst soll seinem
Jünger Maudgalyayana nach dessen Abstieg in die Höllen beauftragt haben, das
Lebensrad auf einem Zylinder aufzumalen und dem König von Udyana zur Bekehrung
zuzuleiten.
Die Darstellung des karmischen Geburtenkreislaufes nach dem Kausalnexus,
das Entstehen in Abhängigkeit in zwölf Gliedern, wie das Hinayana es kennt,
verbindet sich mit Elementen des Mahayana in Form der Bodhisattvaidee und den
Weisheitsstrahlungen der fünf Meditationsbuddhas, die den trüben Lichtern der
seelischen Gifte aus dem Wiedergeburtsbereich entgegenwirken. Damit steht das
Rad der Existenz in engem Zusammenhang mit dem Tibetischen Totenbuch (Bardo Thödol),
das die Erscheinungen in den 49 Tagen zwischen zwei Verkörperungen zeigt.
Das Lebensrad wird von einem zähnefletschenden Ungeheuer in den Klauen
gehalten, das verschieden gedeutet wird. Einerseits erblickt man darin Mara,
den Versucher zur krampfhaften Umklammerung der illusionären Welt, zum anderen
den Totengott und -richter Yama oder einen weiblichen oder männlichen
dämonischen Riesen (Rakshasa oder Rakshasi, tib.: Srinpo oder Srinmo).
In der Mitte des Rades sind drei theriomorphe Symbole der Grundübel zu
sehen, die die Lebewesen an den karmisch bedingten Kreislauf von Geburt, Tod
und Wiedergeburt (Samsara, das Umherwandern) binden. Der Hahn versinnbildlicht
die Gier (oder Wollust), die Schlange den Haß (oder Neid) und das Schwein die
Verblendung (oder Dummheit).
Zwischen diesem kleinen Zentralkreis und der großflächigen Darstellung
der Wiedergeburtszonen kann noch ein schmaler Ring eingeschoben sein, in dem
Heilige und Weise der Glückseligkeit zuschreiten, während auf der anderen Seite
Dämonen die Sünder mit Schlingen in leidvolle Existenzen zerren.
Zwischen den Speichen des Rades sind sechs oder fünf Daseinsbereiche aus
der Region der sinnlichen Begierde oder Wunschsphäre (Kamadhatu) dargestellt,
in die ein Lebewesen hineingeboren wird, wenn es sich den drei Grundübeln
hingibt. Das Reich der Götter und Halbgötter kann getrennt oder zusammengezogen
dargestellt sein, und die Menschen rutschen nach einem Leben in Gier, Haß und
Verblendung manchmal sofort in eine erlösungsungünstige Wiedergeburt als Tier,
Höllenwesen oder Hungergeist. Hervorgerufen durch seelische Gifte, entstehen
Untugenden und herrschen in den karmischen Bereichen verschiedene Formen des
Leidens. Avalokiteshvara, der große Bodhisattva der Barmherzigkeit, erscheint
als verschiedenfarbiger Buddha, um den Erlösungsbedürftigen den Pfad zu weisen,
wie Gifte durch Tugenden in Buddhaweisheiten zu verwandeln sind und wie man
die Befreiung aus dem ewigen Rad der Wiedergeburten erlangt.
1. Reich des Genusses: Im weißen Reich der Götter (Devaloka, tib.: Lhayul) bewirkt
die Verblendung Stolz und Leichtsinn; das Leid besteht in der Illusion der
Ewigkeit dieses glücklichen Zustandes, dem doch der Rückfall in niedrigere
Daseinsbereiche folgen kann. Schon der historische Buddha lehnte die
altindischen (vedischen) Götter nicht ab, billigte ihnen aber nur begrenzte
Existenz im ewigen Weltenlauf zu. Einen Gottesbegriff und eine
Seelenvorstellung, etwa im abendländisch-christlichen Sinne, kennt der
Buddhismus nicht. Avalokiteshvara erscheint als weißer Buddha mit der Laute und verkündet die Tugend der Meditation zur
Befreiung aus Stolz und der irrigen Vorstellung eines dauerhaften >Ich<,
einer Persönlichkeit oder ewigen Individualseele.
2. Reich des Kampfes: Im grünen Reich der götterfeindlichen Titanen und Halbgötter
(Asuras, tib.: Lhamayin) herrschen - aus dem Neid und Hader über den Besitz
der Früchte des Wunschbaumes heraus - ständig Streit und Kampf mit den Göttern.
Der grüne Buddha mit dem Schwert weist den Pfad der sittlichen Zucht.
3. Reich der Tat: In der gelben Menschenwelt (Manushya, tib.: Mi) sind die
Lebewesen in Egoismus und Leidenschaften verstrickt, die ihnen Alter,
Krankheit und Tod bescheren. Der gelbe Buddha Shakyamuni mit Bettelstab und
Almosenschale ruft die Menschen zu Willenskraft und Energie auf. Eine
Wiedergeburt als Mensch ist die erlösungsgünstigste, da der Mensch imstande
ist, die heiligen Schriften zu lesen und zu verstehen, und sein Körper zum
Verwandlungsleib und Gefäß der Vollendung (Nirmanakaya) werden kann. Die
latente Buddhaschaft aller Lebewesen (aus der Sicht des Mahayana) kann am
ehesten der Mensch verwirklichen.
4. Reich der Furcht: Im blauen Reich der Tiere (Tiryagyoni, tib.: Dudgro) sind
geistige Stumpfheit und Unwissenheit anzutreffen, die zur Unterdrückung der
Tiere durch die Menschen, zu Jagd und Fleischgenuß führen. Der blaue Buddha mit
dem Buch der Tugendvollkommenheit will den Tieren den Weg ins Reich des Wissens
weisen.
5. Reich der unbefriedigten Begierden: Die roten Hungergeister (Pretas, tib.: Yidvags)
können wegen ihres engen Schlundes nichts zu sich nehmen und leiden unter
Hunger und Durst. Den Giften Habgier und Geiz, den Flammenzungen der Begierden
setzt der rote Buddha mit dem Nektargefäß die Tugend der Freigebigkeit und Opferbereitschaft
entgegen.
6. Reich der Qual: Im schwarzen Höllenreich und rauchfarbenen Fegefeuer
(Naraka, tib.: Myalba) des Totenkönigs Yama müssen die Lebewesen, verschuldet
durch Zorn und Haß, schreckliche Torturen von Hitze und Kälte erleiden. Der
indigofarbene Buddha mit Wasser und Feuer zur Reinigung weist den Höllenwesen
den Tugendpfad der Geduld.
Der äußere Rand des Lebensrades gibt in zwölf Spalten die Glieder des
altbuddhistischen Kausalnexus, das Entstehen in Abhängigkeit, symbolisch
wieder:
1. Nichtwissen (Avidya): Der Grundirrtum ist der Glaube an die
Unvergänglichkeit und Realität der Erscheinungswelt und die
>Ich-Illusion< - alte, blinde Frau (oder grüner Teufel).
2. Karmagestaltende Triebkräfte (Sanskara): Jeder Mensch formt durch
seine eigenen Taten oder Tatabsichten sein Schicksal und bestimmt die Qualität
der nächsten Wiedergeburt - Töpfer mit Gefäßen.
3. Bewußtsein (Vijnana): Das Bewußtsein ist das Vefbindungsglied
zwischen den einzelnen Existenzen und löst eine neue Wiedefgebutt aus - Flüchte
vetzehtender Affe -, schafft ein neues unkontrolliertes Bewußtsein, das sich
von Objekt zu Objekt bewegt - von Ast zu Ast hüpfender Affe.
4. Name und Form (Namarupa): Bei der Geburt eignet sich der Mensch fünf
Gruppen von Daseinsfaktoren an, und zwar Rupa (Form, Organismus) und Nama (die
sich darin vollziehenden geistig-psychischen Vorgänge: Empfindung, Wahrnehmung, Triebkräfte und
reines Bewußtsein/Geist). Dieses Bündel von Daseinsfaktoren, die untrennbar
miteinander verbunden im Strom des Lebens treiben, ist der Mensch - Schiff mit
Besatzung.
5. Sechs Sinnesorgane (Sadayatana) - Haus mit fünf Fenstern (Sinne) und
einem Tor (Denken).
6. Berührung, Kontakt der Sinnesobjekte (Sparsha) - Liebespaar.
7. Empfindung und Gefühle (Vedana) - Pfeil im Auge (Mann mit gezogenem
Schwert und Frau hinter einem Wandschirm).
8. Begierde, Lebensdurst (Trishna) - Weintrinker (Frau, die zwei Kinder
auf dem Arm trägt).
9. Ergreifen der Sinnenwelt (Upadana) - Blumen- oder Früchtesammler.
10. Werden, Schaffen eines neuen Karma (Bhava) - schwangere Frau (der
Schöpfergott Brahma auf einem Lotos).
11. Geburt (Jati) - Gebärende.
12. Alter und Tod (Jarmarana) - Leiche, die getragen wird (ein Greis,
ein Kranker und ein Leichenzug, wie sie dem jungen Fürstensohn Siddhartha
Gautama zum Anlaß seiner metaphysischen Suche wurden. Das hier angedeutete
potentielle Wissen hebt sich vom Nichtwissen der ersten Spalte ab und verheißt
ein Durchbrechen des Kausalnexus).