DIE ZEIT-Nr. 46-9. November 1990
Birma
Eine Stadt verschwindet
Nach der Vertreibung der Bewohner soll aus Pagan ein großes Touristenzentrum werden / Von Ian Skujka
Für den Weltreisenden Marco Polo war Pagan, die alte Hauptstadt Birmas mit ihren sagenhaften vier Millionen Pagoden, so etwas wie ein Weltwunder. Dabei hatte er die Stadt gar nicht mehr in ihrer vollen Blüte gesehen, sondern erst, nachdem der Mongolensturm des Kublai Khan 1287 darüber hinweggefegt war. Aber der China-Eroberer Kublai hatte als gläubiger Buddhist von dem märchenhaften Wunderwerk des Tempelgebiets so wenig zerstört, daß Pagan bis in unsere Zeit eine der größten Sehenswürdigkeiten der Erde geblieben ist.
Etwa 13 000 Pagoden und Stupas liegen in der weiten Ebene des Irrawaddy-Knies auf einem Gebiet von zwanzig Quadratkilometern verstreut: hochgetürmte, trutzige Kolosse, die an mexikanische Pyramiden erinnern, oder kathedralenartig zum Himmel stürmende steile Spitzen, daneben fein ziselierte, skulpturengeschmückte Tempel, weiß getüncht die noch „arbeitenden" mit dem goldenen Schirm auf der Krone, goldbraun die unbenutzten, viele halb überwachsen von dem knorrig harten Dschungel in der heißen, sandigen Weite. Wer Pagan einmal gesehen hat, kann es nie mehr vergessen.
Pagan, so heißt nicht nur die Ebene mit dem riesigen Ruinenfeld, durch das man mit einem Pferdewagen zu zuckeln pflegte, von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten, von Schönheit zu Schönheit, in Ruhe und Gelassenheit. Pagan, das war auch der Name des Städtchens, hinter dessen geborstenen, mittelalterlichen Mauern man übernachten konnte. Dieser Ort mitten im Pagodenfeld war alles, was Kublai Khan von der ehemals prächtigen Metropole Pagan übriggelassen hatte. Hier duckten sich unter riesigen, uralten Bäumen die typisch birmesischen Häuschen, deren Wände kunstvoll aus mehrfarbigem Bambus geflochten waren. Ein paar Kramläden gab es, die Post, den Markt und außer den beiden staatlichen Hotels einige winzige Dorfrestaurants und einheimische Gästehäuser.
Das hübsche Städtchen Pagan war einer der wenigen Orte, wo Ausländer noch in birmesisches Leben eintauchen konnten, wiewohl die regierenden Militärs auch hier von Jahr zu Jahr größere
Schwierigkeiten machten. Daneben war Pagan der Ort, in dem Birmas beste Lackwaren hergestellt wurden, und das schon seit Jahrhunderten. Davon lebten die Leute hier und vom Fremdenverkehr, der vom Massentourismus noch nicht berührt war. Wer nach Pagan reiste, der reiste so wie Goethe seinerzeit nach Italien.
Doch damit ist es vorbei. Das Städtchen Pagan existiert nicht mehr. Was Kublai Khan vor 700 Jahren und das große Erdbeben von 1975 nicht vermochten, das haben nun die größenwahnsinnigen Generäle geschafft, die in Birma regieren. Als sie 1988 die Demokratie-Bewegung niedergeschlagen hatten, wobei mindestens 3000 Menschen umkamen, wandten sie sich den großen Städten zu. Unter dem fadenscheinigen Vorwand, Slums zu beseitigen, wurden ganze Stadtviertel mit soliden, festen Häusern vernichtet. Hier entledigten sich die Militärs „unzuverlässiger Elemente", die zuviel Vorliebe für die Demokratie gezeigt hatten, und schufen sich freies Schußfeld - falls es erneut zu einem Volksaufstand kommen sollte. Zugleich konnten sie sich so teures Bauland besorgen, ohne einen einzigen Kyat dafür bezahlen zu müssen. Die Bewohner, die ihre Häuser selbst hatten einreißen müssen, wurden mit Militärlastwagen davongefahren. Man setzte sie irgendwo auf freiem Gelände aus, auf freiem Feld, ohne Strom, ohne Straßen, ohne Wasser und weit entfernt von den alten Arbeitsplätzen. So etwas nannte sich dann hochtrabend „Satellitenstadt".
Das gleiche Schicksal hat nach den Wahlen im Mai, bei denen die Demokratie-Liga der immer noch eingesperrten Aung San Suu Kyi haushoch gewann, nun auch Pagan ereilt. Denn die Militärs haben sich entschlossen, diese Wahl, die eigentlich ihre Abwahl war, schlicht zu ignorieren. Da weder politische Motive für die Schleifung von Pagan ersichtlich sind, noch die Begründung überzeugt, hier solle Platz für die Ausgrabung des alten Königspalastes geschaffen werden, scheint sich ein Gerücht zu bestätigen. Das besagt, der stellvertretende Vorsitzende der regierenden Militärjunta, General Than Shwe, habe Befehl gegeben, an der Stelle des alten Städtchens Pagan eine „historische Stadt" zu errichten. Einen Vorgeschmack auf ein solches birmesisches Disneyland kann man derzeit in Mandalay bekommen, dem letzten Sitz der bir-mesischen Könige. Dort werden auf dem alten Palastgelände neue Paläste aus Beton hochgezogen. Auf historische Genauigkeit kommt es dabei nicht an. Hauptsache, die Arbeiten gehen schnell voran. Nachdem sie um ihre wirtschaftliche und politische Zukunft betrogen worden seien, werde ihnen jetzt auch noch ihr kulturelles Erbe genommen, sagen die Leute.
Birma war einmal der größte Reisproduzent Asiens und mit seinen Bodenschätzen eines der potentiell reichsten Länder der Region. Heute zählt es zu den elf ärmsten Ländern der Welt und steht auf einer Stufe mit Äthiopien und Bangladesch. Die Generäle sind jetzt auf der Suche nach neuen Einnahmequellen, die ihre politische Zukunft finanzieren sollen. So verhökern sie die Reichtümer des Landes - Öl, Teakholz, Jade und Rubine. Mit Thailand sind sie bereits groß ins Geschäft gekommen, aber auch mit anderen ausländischen Interessenten, ungeachtet dessen, daß deren Regierungen offiziell das Militärregime boykottieren, solange dem Volk die Demokratie verwehrt wird.
Jetzt soll vor allem auch am Tourismus verdient werden - und zwar möglichst viel. So wurde erst einmal der ohnehin sehr dünne Touristenstrom beschränkt, nun sind nur noch Gruppenreisen erlaubt. Das hat den Vorteil, daß die Urlauber leichter zu kontrollieren sind. Kontakte mit der Bevölkerung sind nämlich verboten. Auf diese Weise kann man auch den Reisenden mehr Geld abknöpfen. Ein Tag Birma kostet jetzt im Durchschnitt etwa 150 Dollar. Da in den Luxushotels des benachbarten Thailand eine Mahlzeit an den üppigen Frühstücksbuffets 8 Dollar kostet, verlangen die Birmesen nun ebensoviel, allerdings für nicht mehr als zwei alte Eier, zwei zwiebackgroße Toaststücke und eine Banane. Als Mittag- und Abendessen zum Preis von 10 Dollar gibt es tagein, tagaus eine wässerige Suppe, ein kleines Stück knochiges Hühnchen und Pommes frites. In den verstaatlichten Hotels, in denen zu wohnen der Tourist gezwungen ist, heben die Angestellten entschuldigend und verzweifelt die Hände zum Himmel, wenn die Decke im Badezimmer herunterkommt, die Wände in den verwahrlosten Zimmern verschimmeln und die Abflüsse nicht funktionieren.
Die staatliche Touristenorganisation Tourist Burma, die nach der Umbenennung des Landes nun Myanmar Tours and Travels heißt, setzt die Touristen nur in den Zug statt wie versprochen ins Flugzeug. Denn der schleudernde, stinkende Nachtzug, der sechzehn Stunden unterwegs ist, erspart die Kosten für eine Übernachtung und zwei Mahlzeiten.
In Maymyo, der kühlen Sommerkapitale der Briten in den Bergen über Mandalay, werden die alten britischen Fachwerkhäuser zu kleinen Hotels hergerichtet, in sozialistischer türkis-gelber Tristesse, neben der sich ähnliche Einrichtungen in China oder der Sowjetunion wie ein Ausbund an Gemütlichkeit ausnehmen. Im „Guesthouse Number One" kostet zum Beispiel das Zimmer (Bad und Toilette gemeinschaftlich zu benutzen) achtzig Dollar pro Nacht. An den Stränden sollen Beach Resorts und im Goldenen Dreieck ein Luxushotel mit Casino entstehen, Coca- und Pepsi-Cola halten nun auch in dem bis dahin verschonten Fleckchen Erde Einzug, wo die Menschen nicht einmal genug zu essen haben.
So hat sich die Armee auch das ganze Pagan als Monopol gesichert, um dort ein großes Touristenzentrum zu entwickeln. Auf Menschen freilich trifft man dort nicht mehr, abgesehen von einigen Einwohnern, die tagsüber kommen, um alte Ziegelsteine zu klopfen. Es stehen hier nur noch die staatlichen Gebäude, die beiden Hotels, das Gebäude von Tourist Burma und zwei Imbißstuben. Zum Teil mit Waffengewalt hat man die Bevölkerung aus ihren Häusern getrieben, nachdem ihr vorher Wasser und Strom abgedreht worden waren. Fünf „Rädelsführer" eines zaghaften Widerstands sitzen seit Wochen im Gefängnis. In einer baum- und strauchlosen Wüste etwa zehn Kilometer südöstlich von Pagan wurden die Leute abgesetzt, auf Land, das Bauern zuvor ohne Entschädigung abgenommen worden war. Für die Unkosten der Übersiedelung erhielt jeder Haushalt 250 Kyat, aber eine Fuhre auf dem Militärlastwagen kostete schon 350 Kyat. Ein Lehrer in Birma verdient etwa 1000 Kyat im Monat, ein Tagelöhner 15 am Tag. Für ein neues Haus verlangt die Regierung 10 000 Kyat.
Durchfall, Gelbsucht und Infektionen sind derzeit weit verbreitet, es sterben vor allem die Alten und die Säuglinge. Für einige zehntausend Menschen gibt es drei Brunnen, zum Fluß ist es eine Stunde Fußmarsch. Es existiert keine Straße, sondern nur ein aufgewühlter Sandweg zum neuen Dorf, auf dem man sogar Fahrräder schieben muß. Die Menschen haben Angst, über ihre Situation zu sprechen, sie sind eingeschüchtert und haben, wie es scheint, den Lebensmut verloren. Bei den tief im Buddhismus verhafteten Birmesen will das viel heißen. „Uns bleibt nur die Hoffnung, daß sich alles einmal ändern wird", sagt ein ehemaliger Einwohner Pagans und setzt nachdenklich hinzu: „Aber wann?" Birmas Militärs allerdings haben vorerst beschlossen: noch lange nicht.