1.
Warum ist die Gewalt so schnell ausgeufert?
Die Ankündigung am 4. September 1999, daß fast 80 Prozent der
wahlberechtigten Ostimoresen am 30. August die Autonomie abgelehnt haben
und sich von Indonesien trennen wollten, löste eine Gewaltexplosion aus.
Diese Explosion war möglich, weil um Autonomie bemühte Milizen Waffen
hatten und niemand sonst (mit Ausnahme der Guerilla, die nicht bereit war,
sie einzusetzen; weil die Polizei und die Armee keine Anstrengung
unternahmen, die Angriffe der Milizen zu stoppen und in einigen Fällen
aktiv daran teilnahmen; und weil dies vielleicht Teil einer militärischen
Strategie war, um die Unabhängigkeit zu vereiteln.
2.
Wer sind die Milizen in Osttimor?
Ende Januar 1999, nachdem
der indonesische Präsident Habibie ankündigte, daß er Osttimor die Möglichkeit
geben würde, unter indonesischer Souveränität die Autonomie zu wählen
oder sich von Indonesien zu trennen, trat plötzlich ein Netz von 13
Distrikt-Milizen zutage. Sie waren vorgeblich dazu ausgebildet, die Bevölkerung
gegen Übergriffe der für Unabhängigkeit kämpfenden Guerilla und
Jugendgruppen zu schützen, versuchten jedoch eigentlich die Osttimoresen
einzuschüchtern, damit sie die weitere Integration mit Indonesien unterstützen.
Diese Milizen wurden offen von der indonesischen Armee unterstützt; die
meisten standen unter dem Kommando des lokalen Distriktmilitärs.
Alle 13 Milizen werden
von Osttimoresen angeführt, die schon von je her mit der indonesischen
Armee kooperieren. Nicht alle sind neu; einige wurden in den 70er Jahren -
nach der indonesischen Invasion - gegründet, doch die drei schlimmsten -
Aitarak (Dili), Besi Merah Putih (Liquica) und Mahidi (Suai) - wurden
dieses Jahr gegründet. Enrico Gutteres, der Anführer von Aitarak, ist
ein ehemaliger Unabhängigkeitskämpfer, der die Seiten wechselte, nachdem
er infolge des Santa Cruz-Massakers 1991 in Dili verhaftet wurde. Er wurde
zum Anführer der jugendlichen Zivilgarde, genannt Gardapaksi, eine
paramilitärische Hilfstruppe, die 1995 von Prabowo gegründet wurde. Der
Kopf der Milizen in Baucau ist ein aktiver Kopassus-Offizier vom Dienst.
Die Halilintar-Miliz in Bobonaro, eine der älteren Gruppen, wird von Joao
Tavares, einem ehemaligen traditionellen Clanoberhaupt angeführt, der vor
der Invasion 1975 ein Mitglied der pro-indonesischen Apodeti-Partei war.
Es gab Behauptungen, daß
einige der Milizen keine Osttimoresen waren. Im Juli soll die
Laksaur-Miliz im Suai-Gebiet zumindest zur Hälfte aus Westtimoresen
bestanden haben.
Die Einschüchterungs-
und Terrorkampagne der Milizen erschien im April einen Höhepunkt erreicht
zu haben, als eine Miliz aus dem Liquica-Distrikt, westlich von Dili, im
April an 45 Flüchtlingen in einer Kirchenanlage ein Massaker verübten,
dann Häuser und Büros von verdächtigen Unabhängigkeitsaktivisten in
Dili plünderten. Für diese Angriffe wurde niemand verhaftet, obwohl die
Übeltäter sehr wohl bekannt waren.
Die Gewalt der Milizen
ging im Juli weiter und spitzte sich beim Angriff eines NSO-Konvois zu,
der Hilfsgüter für die Vetriebenen brachte. (Bis dahin waren rund 40.000
Menschen durch die Gewalt der Milizen vertrieben worden). Internationale
Proteste führten zur Verhaftung von sieben jungen Verdächtigen - keiner
von ihnen war für die Organisation des Angriffs verantwortlich - und es
gab in den folgenden Wochen ein sichtbares Nachlassen des Milizen-Terrors.
Eine neue Welle der Gewalt begann nachdem die Registrierungszentren Ende
Juli öffneten, um Wähler für das Referendum über Autonomie/Unabhängigkeit
zu registrieren. Am 30. August, dem Tage des Referendums, kamen allen
Einschüchterungen zum Trotz 98,2 Prozent der Wahlberechtigten zu den
Urnen.
Die Ergebnisse wurden am
Samstagmorgen, Dili-Zeit, am 4. September angekündigt. Die Milizen gingen
sofort in eine scheinbar im voraus geplante und koordinierte Offensive auf
dem gesamten Gebiet, doch vor allem in Dili und den westlichen
Verwaltungsbezirken (Bobonaro, Liquica, Suai und Ermera). Jeder
Osttimorese, der in irgendeiner Weise mit der UN-Mission in Osttimor -
bekannt als UNAMET - assoziiert war, wurde zur Zielscheibe. Ebenso ausländische
und indonesische Journalisten, die als Sympathisanten der Unabhängigkeitsbewegung
galten, und die Büros und Häuser von Unabhängigkeitskämpfern. Tausende
von Vertriebenen wurden an ihrem Zufluchtsort angegriffen und einige von
ihnen scheinen mit Lastwagen nach g gebracht worden zu sein.
3.
Welche Beweise gibt es für eine Kooperation und Koordination von
Armee/Militär?
Human Rights Watch hat
umfassende Augenzeugenberichte von Armeeoffizieren, die an den Operationen
der Milizen teilnahmen, von Milizen, die von Soldaten bei ihren Angriffen
unterstützt wurden, von Milizen, die Treffen in den Kommandostellen des
Distriktmilitärs abhielten. Am 30 August führte ein indonesischer
Armeemajor aus Westtimor scheinbar nach der Wahl eine Terrorkampagne und
Hausverbrennungen von Leuten durch, die mit der Unabhängigkeitsorganisation,
CNRT in Leno, Ermera, verbunden waren, während Soldaten im Dienst an
einem Angriff auf das UNAMET-Personal vor Ort teilnahmen. Die
indonesischen Soldaten waren scheinbar direkt an dem Angriff auf das
UN-Personal in Liquica am 3. September beteiligt. Eine Verbindung steht außer
Frage. Diplomatische Quellen haben sogar noch bessere Beweise.
Alles deutet darauf hin,
daß die Eskalierung der Gewalt nach der Ankündigung der
Referendumsergebnisse eine geplante, von der Armee organisierte Offensive
war. Ein "leitender Beamter des Außenministeriums" wurde anonym
dahingehend zitiert, daß es eine Operation der Sonderstreitkräfte der
Armee (Kopassus) war - der Streitkraft, die früher von Suhartos
Schwiegersohn Prabowo angeführt wurde. Die Polizei in Dili sagte einem
Mitglied der indonesischen nationalen Menschenrechtskommission, daß sie
nichts machen konnten, weil es ein Kopassus-Gebiet war. Kopassus war
wahrscheinlich beteiligt; sie stehen im Dienste Djakartas und alles deutet
auf General Wiranto, Befehlshaber der indonesischen Streitkräfte hin.
4. Warum sollte die Armee diese Milizen organisieren?
Es gibt mehrere mögliche Gründe:
a. Die Armee war seit der
Ankündigung vom Habibie im Januar 1999 besorgt, daß die Unabhängigkeit
von Osttimor zu einem Auseinanderbrechen von Indonesien führen würde. Es
steht außer Frage, daß sich die Unabhängigkeitsbewegungen in Aceh und
Irian Jaya von den Entwicklungen in Timor und von der Rolle der UNO
ermutigt fühlten. Die Gewalt konnte eine Warnung für sie sein, daß eine
weitere Bewegung in Richtung Unabhängigkeit zu Blutvergießen führt, und
die indonesische Armee ist mächtiger als irgendeine ausländische Kraft,
einschließlich der UNO.
b. Wiranto ist um die
Einheit der Streitkräfte besorgt. Viele indonesische Soldaten starben bei
Angriffen oder Hinterhalten der Falintil-Guerilla in Osttimor, viele
weitere wurden verwundet. Viele führende Offizier wurden nach einem
Kampfeinsatz in Osttimor befördert. Die Idee, Osttimor zu verlieren, wird
von einigen Offizieren als Verrat an all dem gesehen, was die Armee in den
letzten 24 Jahren tat. Um seine Truppen zusammenzuhalten, hat Wiranto
scheinbar alles in seiner Macht stehende tun müssen, um die Unabhängigkeit
zu vereiteln.
c. Die Armee glaubte
wirklich, daß sie gute Arbeit geleistet und genug Leute eingeschüchtert
hatte, um einen viel höheren Prozentsatz in der Wahl zu bekommen. Sie
kann den 98,2 Prozent nicht glauben und setzt jetzt alles über eine
Medienoffensive daran, die indonesische Bevölkerung zu überzeugen, daß
UNAMET einen gewaltigen Betrug verübt hat. Die Offensive funktioniert
leider (siehe unten).
d. Die Wahl und die
Gewalt spielen in die indonesische Politik herein. Habibie ist von dem
Debakel jetzt in den Augen der wenigen verbleibenden Gruppen völlig in Mißkredit
gebracht worden, die immer noch bereit waren, ihm eine gewisse Legitimität
zu gewähren. Wiranto nutzt vielleicht die von ihm kontrollierte Gewalt
und das Kriegsrecht als Sprungbrett, um Präsidentschaftskandidat der
regierenden Partei Golkar - anstelle von Habibie - zu werden.
5.
Wie kann die Gewalt in Osttimor beendet werden?
Die indonesischen
Streitkräfte könnten die Gewalt leicht beenden, wenn sie den politischen
Willen hätten, dies zu tun. Alle Angriffe der letzten Woche, eigentlich
die meisten Angriffe in den letzten sechs Monaten - mit einigen sehr
wenigen Ausnahmen - wurden von Milizen angeführt, die von der
indonesischen Armee gegründet, bewaffnet und unterstützt wurden. Es gibt
jetzt über 8.000 indonesische Polizisten in Osttimor und mindestens
genauso viele Soldaten, keiner von ihnen hat eine Anstrengung unternommen,
um die Gewalt der Milizen zu beenden oder die Verantwortlichen zu
verhaften. Die Angriffe am Montag, den 6. September, auf das Haus von
Bischof Belo und das Büro der Internationalen Komitees des Roten Kreuzes
wären ohne logistische Unterstützung der Armee nicht möglich gewesen.
Lokale Menschenrechtsorganisationen, UN-Personal und sonstige
internationale Agenturen haben indonesische Offiziere identifiziert, die
direkt mit den Milizen bei den gewalttätigen Ausschreitungen
zusammenarbeiteten. Diese Namen wurden den maßgeblichen indonesischen Behörden
weitergeleitet, jedoch keinerlei Maßnahmen gegen sie ergriffen.
Da die indonesische Armee
die Fähigkeit, jedoch nicht den Willen hat, die Gewalt zu beenden, ist
die einzige Alternative für Geberländer, ihre beträchtliche
Wirtschaftsmacht zu nutzen, um der Armee und ihren Anhängern bei der
indonesischen politischen und wirtschaftlichen Elite die Konsequenzen
einer Fortsetzung ihrer derzeitigen Rolle deutlich zu machen oder Habibie
zu überzeugen, eine internationale Friedenstruppe zuzulassen.
6.
Nach zunehmendem internationalen Druck erklärten Habibie und General
Wiranto am Dienstag den Ausnahmezustand in Osttimor. Wird das helfen?
Ein Ausnahmezustand in
Osttimor wird wahrscheinlich ein Menschenrechtsdesaster werden. Die Armee
hat genug Personal für die Beendigung der Gewalt hat nichts getan. Das
Kriegsrecht ist vielleicht nur ein Vorwand, um Verdächtige ohne Anklage
oder Prozeß zu verhaften und eine internationale Überwachung der Rolle
der Armee zu behindern. Das letzte, was Osttimor braucht, ist, daß die
Armee zusätzliche Macht erlangt. Das Kriegsrecht kann vielleicht auch
genutzt werden, um die führenden Unabhängigkeitskämpfer zu entwaffnen
und zu verhaften.
7. Ist jeder, der die Autonomie unterstützt ein
Mitglied der Miliz?
Nein, es gibt viele
Beamte, die ihre Autorität von ihren Verbindungen zur indonesischen
Machtstruktur herleiten und wahrscheinlich für Autonomie stimmen, sowie
Nicht-Timoresen, die durch ihre Geburt in Osttimor wahlberechtigt waren
oder einen Ehegatten haben, der in Osttimor geboren wurde. Es gibt auch
einige Intellektuelle, die wirklich glaubten, daß Osttimor auf keinen
Fall als unabhängiger Staat überleben könne. Doch bis zum Zeitpunkt des
Referendums war fast jeder in die Miliz, ihre politische Front (das Forum
für Demokratie und Gerechtigkeit) oder die autonomiebestrebte
Organisation BRTT (Volksfront für Osttimor) rekrutiert worden, die
anscheinend der Regierungspartei Golkar nachgebildet wurde.
8.
Warum werden die Flüchtlinge aus Osttimor vertrieben?
Das ist nicht klar. Eine
Theorie ist, daß die Armee plant, Osttimor zu teilen und tatsächlich das
Ergebnis des Referendums zunichte zu machen. Um das zu tun, möchte die
Armee sicherstellen, daß Schlüsselbereiche, einschließlich Dili und die
westlichen Distrikte unter völliger Kontrolle der Milizen sind. Das
bedeutet, daß die um Unabhängigkeit bemühten Leute, die die überwältigende
Mehrheit der Vertriebenen darstellen, aus dem Weg geräumt werden. Die
Milizen hoffen vielleicht auch, daß ihre Forderungen für eine Neuwahl
gewährt werden, um, die angeblich mangelnde Fairneß und Befangenheit in
dem Referendum zu korrigieren, das internationale Beobachter im
allgemeinen als frei und fair erachteten; wenn das geschieht, werden die
Reihen für die Unabhängigkeit sehr viel dünner werde. (Die UNO hat
keine Absicht eine Neuwahl zu genehmigen, doch die um Autonomie bemühte
Seite hat sich geweigert, das Ergebnis zu akzeptieren und scheint keine
Zugeständnisse machen zu wollen).
Die indonesische Presse
stellt weiterhin die große Mehrheit der aus Dili strömenden Osttimoresen
als autonomiebestrebt dar, und daß sie Angst vor den Folgen der Unabhängigkeit
haben. Das mag für die meisten der fliehenden Nicht-Timoresen wahr sein,
doch eine große Anzahl flieht auch vor der Gewalt der Miliz oder wurden
auf Lastwagen gezwungen und nach Westtimor transportiert. Rund 25.000
Menschen sollen Osttimor schon verlassen haben, mit allein über 10.000 in
Westtimor.
9.
Wie wirkt sich das ganze in Djakarta aus?
In der Presse von
Djakarta ist praktisch überall zu lesen, daß UNAMET die Wahl zugunsten
der Unabhängigkeit manipuliert hat. Jeder Regierungsminister, jeder
Politiker propagiert Parolen gegen die UNO, gegen den Westen, wobei
Australien eine besonders boshafte Kritik vorbehalten ist. Für die
meisten Beobachter scheint das Argument von weit her geholt zu sein, daß
Australien aus Sicherheitsgründen ein unabhängiges Osttimor wollte, daß
die USA China von einem unabhängigen Osttimor aus überwachen wollten,
und daß sich die UNO ihrem Wunsch gebeugt hat.
Das ist aus drei Gründen
sehr gefährlich. Es kann die Grundlage für einen Versuch der Delegierten
der Volkskammer bzw. MPR - Indonesiens höchster Gesetzgebungsinstanz -
bilden, sich zu weigern, die Ergebnisse des Referendums im November zu
verabschieden. Ohne eine solche Billigung ist die Unabhängigkeit
Osttimors nicht garantiert. Der neue Nationalismus dient der Schwächung
politischer Gruppen innerhalb der politischen Elite, was bedeutet, daß
die Armee und die autonomiebestrebten Gruppen zunehmend öffentliche
Unterstützung erhalten. Und es ist vielleicht politisch viel schwieriger
für Geberländer, hart mit Indonesien umzugehen, wenn ihre
Regierungsbeamten sich davor hüten, die Gegenreaktion in einem Land zu
verschärfen, in dem sie umfassende Interessen haben.
10.
Welches ist die Wahrscheinlichkeit einer internationalen Friedenstruppe in
der jetzigen Phase?
Die Erklärung des
Kriegsrechts bedeutet, daß die Armee entschlossen ist, alleine
vorzugehen, und daß Indonesien keine Friedenstruppen hereinbitten wird.
Ohne indonesische Genehmigung wird der UN-Sicherheitsrat nicht die
Stationierung von Friedenstruppen genehmigen, somit ist es unbedingt
notwendig, daß dafür auf Djakarta Druck ausgeübt wird.
Auf der anderen Seite könnte
- wenn Indonesien zustimmt - schnell eine Streitkraft um einen
australischen Kern einsatzbereiter Truppen gebildet werden. Die Australier
wollen in gewisser Weise eine Zusage für eine Beteiligung der USA, was
jedoch wahrscheinlich nicht mehr als eine logistische Unterstützung für
eine Operation von jemand anders sein wird - wenn überhaupt.
11.
Wenn die nicht-humanitäre Hilfe ausgesetzt wird, welches sollten die
Bedingungen für das Aufheben dieser Sanktionen sein?
Wir meinen, daß die
Wiederaufnahme der Hilfe von der Fähigkeit der UNAMET abhängig gemacht
werden sollte, die volle Tätigkeit in allen 13 Verwaltungsbezirken von
Osttimor aufzunehmen; mit uneingeschränkter Freiheit für lokales und
internationales Personal, um ohne Belästigung arbeiten und reisen zu können;
von der Möglichkeit für Flüchtlinge, sicher nach Hause zurückzukehren;
und von der Verhaftung der Anführer der Milizen, die für die gewalttätigen
Ausschreitungen verantwortlich sind.
12.
Welches ist die Rolle der internationalen Wirtschaftsgemeinschaft in der
Krise?
Die Abwertung der Rupiah
infolge des Debakels in Osttimor belegt, welches Interesse, die Geschäftswelt
an einer schnellen und effizienten Lösung der Krise hat. Die Unternehmen
sollten in ihrem eigenen wirtschaftlichen Interesse ihren Einfluß nützen,
um die indonesische Regierung zu überzeugen ...
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