Quelle: Frankfurter Rundschau vom 30.11.1996


Aus zweiter oder gar aus dritter Hand

Der Menschenfresser-Mythos bei den Bataks

Von Ingrid Decker

Friedlich schwappen sanfte Wellen an die Ufer des Tobasees, der im tropischen Dämmerlicht langsam seine Farbe verändert: aus Türkisgrün wird Blau, dann Grau, und wenig später ist das Silber der Wasseroberfläche gesprenkelt vom Licht der untergehenden Sonne. Geheimnisvoll verabschiedet sich ein Tag, der still und ereignislos war, ein Urlaubstag eines erschöpften Rucksacktouristen aus Europa oder Amerika oder eines gestreßten Kurzurlaubers aus Singapur oder Japan.

Bunte Glühlampen werfen bald ihre Farbtupfer auf den See, und in den Diskotheken der Insel bereitet das Personal sich auf die nächste lange Nacht vor. Die Furcht vor den Geistern bezwingen viele der einheimischen Bataks unter 30 Jahren genau wie die Touristen heute mit Popmusik. Tuk Tuk heißt das Epizentrum gewaltiger Lautsprecherausbrüche gemischt mit „dolce vita" auf indonesisch. Lärmempfindliche und Moralapostel verschlägt es bald an die Peripherie, die aber auch ihre Reize hat.

Einerseits ist es der Zauber des Tobasees,  „Sumatras schönstem Fleck", des größten Vulkankratersees der Erde, des „Lago Maggiore Asiens", dessen Steilküsten von Pinien und Kokospalmen gesäumt sind und der trotz seiner Nähe zum Äquator klimatisch so angenehm ist, andererseits könnte der wachsende Besucherstrom auch auf die mit Eifer betriebene Verrätselung der Batakkultur zurückzuführen sein.

Was die Fremden heute so magnetisch anzieht, ist genau das, was sie früher fernhalten sollte: ein launischer, tiefer See (bis zu 450 Meter tief) inmitten schroffer Abhänge und „der Ruf der Bataks als aggressives Volk", wie es in einem modernen Reiseführer heißt, die „unablässig mit ihren Nachbarn rituelle Kriege führten" und bei denen „Kopfjägerei und Kannibalismus gang und gäbe waren". Angeblich bauten die Toba-Bataks keine Brücken, und auch die Pfade zu ihren Nachbarn ließen sie verfallen. „Als Heiden und Kannibalen erregten sie Abscheu bei den europäischen Besuchern von Marco Polo bis Stamford Raffles."

Wirklich abschreckend scheint der schlechte Ruf der Bataks jedoch nie gewirkt zu haben, denn Neugierige und Eindringlinge selbst aus dem fernen Europa gab es genug: erst venezianische, dann britische Kaufleute und holländische Kolonisten. Wenig später kamen christliche Missionare und in ihrem Troß all die Abenteurer, die der Sache mit dem Kannibalismus auf den Grund gehen wollten.

Boston, ein junger Touristenführer auf der Tobainsel Samosir, ist ein Nachfahre dieses angeblich „kannibalischen Ur-volks". Er hat eine Ausbildung an einem College in Pematang Siantar, der nächstgrößeren Stadt, absolviert, die ihn auf diesen Job vorbereiten sollte. Neben Englisch und Geographie lernte er dort, wie man Touristen mit Freundlichkeit behandelt, daß man ihre Kultur verstehen muß, um sie nicht vor den Kopf zu stoßen, und das, was wissenswert ist über die Kultur der Batak — kurzum, wie man Touristen zufriedenstellt. Bostons Großvater, einer der reichsten Männer der Gegend, hat das ursprüngliche Dorf der Bewohner, die längst in modernen Häusern leben, zu einem Museum umgestaltet, und Boston verdient zusammen mit einigen Freunden noch ein paar Rupien dazu, wenn er den Touristen die blutrünstigen Geschichten aus der Vergangenheit bestätigt, die sie zuvor schon in den Reiseführern gelesen haben.

Umgeben von den alten Holzhäusern der Bataks, mit all dem Getier, wie Eidechsen und Schlangen, die die Giebel verzieren, und den hochgebogenen Dachspitzen, die wie Büffelhörner in den Himmel ragen, versuchen Boston und seine Freunde und auch die Guides, die mit den Touristengruppen unterwegs sind, ihren Kunden das Gruseln beizubringen, denn hier kann man laut Reiseführer „einen kannibalischen Frühstückstisch" bewundern, an dem der „raja einst sein Frühstück mit Blut hinuntergespült" haben soll. Die Geschichten variieren, je nach dem, wie das Publikum eingeschätzt wird. Durch die ergänzende Lektüre der Reiseführer versteht dann selbst der Zweifelnde „dieses weitere wichtige Element der Batakkultur", denn „durch den Verzehr wichtiger menschlicher Körperteile gingen Seelenenergien und positive Eigenschaften" auf den Esser über. Boston und auch sein Großvater, der sich oft diese Geschichten mit anhört, lachten, als ich wissen wollte, ob das nicht alles rufschädigend sei. Das Museum ist gut besucht und die stattliche Zahl der Souvenirläden rundherum, die der Familie gehören, sind es ebenso. Hier werden neben Batikhemden, Ledertaschen und Ansichtskarten die Insignien der Batakschamanen wie Zauberstäbe, Orakelbücher und magische Kalender in tausendfacher Nachbildung an den Touristen gebracht, um dann erst in den heimischen Vitrinen als Einzelstücke ihre Aura zu entfalten.

In den Sumatra-Reiseführern, die gegenwärtig auf dem deutschen Markt sind, werden die eigenwilligen „Traditionen" der Bataks beschrieben — und selten bezweifelt, genauso wie in den Reiseerzählungen der Abenteurer und Forscher vergangener Jahrhunderte. William Marsden, ein englischer Reisender, veröffentlichte 1783 die erste Monographie über die Insel Sumatra. Marsden beschreibt darin unterschiedliche Praktiken eines angeblichen Kannibalismus, die eher Ähnlichkeiten mit einer Grillparty haben. Er begeistert sich am „wilden Enthusiasmus" der Bataks, und natürlich ist er ihnen lebend entkommen. Ehrlicherweise schreibt er dazu: „Ich war niemals ein Augenzeuge eines Battafestes dieser Natur und meine Authorität ist ganz entscheidend dadurch geschwächt, daß ich diese Informationen nur aus zweiter oder gar aus dritter Hand habe."

So ehrlich war kaum einer nach ihm. Joachim Freiherr von Brenner nannte sein Buch von 1894 gar „Besuch bei den Kannibalen Sumatras", ohne je „wüste Festlichkeiten", die er vermutete, gesehen zu haben, bei denen angeblich „das Fleisch der unglücklichen Opfer ihrer Rohheit in den Kochtöpfen schmort".

Die Bataks am Tobasee sind heute Christen und stolz darauf, derselben Religionsgemeinschaft wie die Touristen aus dem Westen anzugehören. Den Namen des Apostels der Bataks, Ludwig Nommensen, kennt heute noch jedes Kind. Eine deutsche Missionsgesellschaft hatte ihn 1864 an den Tobasee geschickt, nachdem bereits zwei amerikanische Missionare bei bewaffneten Auseinandersetzungen mit den Bataks umgekommen waren. „Aufgefressen" stand jedoch bis nach dem Zweiten Weltkrieg auf ihren Grabsteinen.

Das machte sich gut, denn als christliche Märtyrer, Opfer eines angeblichen Ritualmordes, war den Toten ein Platz im Himmel und die Verehrung auf Erden sicher.

Ludwig Nommensen kam unbewaffnet und hatte zuvor die Sprache der Bataks erlernt. Seinen Berichten zufolge wurden die angeblich so „wilden Battas" schnell lammfromm: „Früher trieben die Kinder sich nur umher und verübten allerlei Schandthaten, übten sich im Stoßen mit den Füßen und im Werfen mit Steinen und Rohrlanzen, oder saßen bei den Er: wachsenen, hörten ihre schlechten Reden, sahen dem Kartenspiel zu und liefen nackt umher. Wie ganz anders jetzt! Sie kommen jetzt rein gewaschen und gekleidet und sitzen in Reih und Glied still und ordentlich und hören auf die Worte ihrer Lehrer", schrieb Nommensen an seine Freunde nach Deutschland. Er ergänzt jedoch: „Aber hart an unseren Grenzen sieht es noch jämmerlich aus. Erst ganz kürzlich haben die Häuptlinge einen Mann wörtlich aufgegessen."

Ziel der Missionierung war es, im Laufe der Zeit Rituale und Normen der Batakkultur durch christliche zu ersetzen. So wurden Tänze, in denen ein Medium mit den Ahnen in Verbindung zu treten versuchte, nicht verboten. Aber den Zuschauern verweigerte anschließend der Priester das Abendmahl. Heute sind weitgehend sinnentleerte Tanzveranstaltungen zur Unterhaltung der Touristen eine Einkommensquelle der Bataks.

Weder christlichen Missionaren noch der holländischen Kolonialmacht gelang es, den Bataks ihren Ahnenkult zu verbieten. Sichtbares Zeichen sind die aufwendigen Gebeinhäuser, in denen die gereinigten Knochen der Toten aufbewahrt werden. Bei den Ahnenfeiern werden die Gebeine der Vorfahren ausgegraben und von den Frauen rituell gereinigt. Von Klagegesängen begleitet, breitet man sie vor den Augen der Angehörigen aus und betrauert sie. Sicher sind diese Zeremonien auch manchem neugierigen Fremden nicht verborgen geblieben. Und könnte es nicht sein, daß ein Unverständnis solchen Handlungen gegenüber zu mißverständlichen Interpretationen geführt hat ?

Wer möchte, kann sich risikolos die blutrünstigen Rituale der Bataks von Boston und seinen Freunden vorführen lassen. Mit einem rostigen, stumpfen Messer, einem im stummen Schmerz verbissenen Delinquenten, neben einem wild gestikulierenden Henker in den Hauptrollen, bringen sie die Zuschauer, Touristen aus aller Welt, zum Lachen. „Heute geben sie sich oft mit ironischer Absicht stolz auf ihre blutrünstige Vergangenheit und spielen bewußt mit ihrem Image als Primitive", kommentiert ein aktueller Reiseführer diese Vorführungen.

Eine Pionierin unter den Sumatrareisenden, Ida Pfeiffer aus Österreich, die vor 140 Jahren allen Warnungen zum Trotz das „Land der Battas" bereiste und überlebte und natürlich ausführlich all die kannibalischen Rituale beschrieb, die auch sie nicht gesehen hatte, berichtete eine ähnliche Begebenheit. Alle ihre Tänze hatten die Bataks Ida Pfeiffer bereits vorgeführt, „bis auf jenen", wie sie schreibt, „den sie bei der Tötung eines Menschen aufführen, der zum Verzehren bestimmt ist. Diesen Tanz wollte man mir nicht zeigen, gab aber am Ende doch meinen Bitten nach." Ein großes Stück Holz stellte dann das Schlachtopfer dar, und der Tanz war lebhaft und von Grimassen begleitet. Ida Pfeiffer beschreibt ihre Verwunderung darüber, daß alles nicht so sehr mit wilden als mit fröhlichen Gebärden geschah, denn „die Gesichtszüge drückten dabei mehr Vergnügen als Grausamkeit aus. Freilich war dieß nur ein Spiel", schränkt sie ein, „ganz anders mag es sich verhalten, wenn ein wirklicher Mensch getötet wird".

Beschuldigungen dieser Art brachte auch unter anderen Plinius der Jüngere, wie aus zeitgenössischen Quellen hervorgeht, gegen die Christen vor, die wiederum erhoben im 12. Jahrhundert erstmals Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden. Abscheu und Haß wurden in beiden Fällen Auslöser und Rechtfertigung für Verfolgungen.

Wer mag es gewesen sein von all den Sumatra-Reisenden, der da im Gebüsch gesessen hat und die „blutrünstigen Kannibalenrituale" beobachten und trotzdem den Bataks entkommen konnte, fragt sich die Schreiberin eines modernen Reiseführers. Oder waren es kulinarische Motive, wie ein frisch auf dem Markt erschienener „Guide" zu wissen vorgibt: „Gefangene wurden als nicht menschlich angesehen und galten als ausgezeichnete Speise..."

Der junge Touristenführer Boston hat jedenfalls ganz andere Ambitionen als seine angeblich so verrufenen Vorfahren. Ein angesehenes Mitglied seiner Gesellschaft, „a good man", will er werden, und das bedeutet für ihn, sein Dorf so berühmt zu machen, daß die Bewohner alle vom Tourismus leben können. Offensichtlich schwebt ihm ein zweites Tuk Tuk vor, das auf Sichtweite entfernt liegt — nur etwas friedlicher vielleicht.