Aus: Bertelsmann Lexikon "Die Völker der Erde - Kulturen und Nationalitäten von A-Z", Gütersloh/München 1992:
Häuser wie der Kosmos
- Pfahlbauten auf Sumatra
"Nach der Tradition vieler altindonesischer Völker besteht der Kosmos aus drei
Teilen: der prächtigen Oberwelt über dem Firmament, der Mittelwelt des Menschen
und der das Ganze tragenden Unterwelt. Die höchste Sphäre der Oberwelt wird von
dem göttlichen Weltenherrscher regiert, dem Schicksalsbestimmer des Menschen,
Hüter von Sitte und Recht. In den unteren Gefilden residieren andere Götter,
hilfreiche Geister und die Ahnen, dort liegt auch das Totenland. Die Welt
zwischen Erde und Firmament hat keine rechte Existenz, denn alles in ihr ist
entweder auf die Ober- oder die Unterwelt bezogen, und zur Oberwelt gibt es
keine Grenze. Der Kosmos wird von mächtigen Stützpfeilern in der Unterwelt
getragen. Diese personifizieren den göttlichen Welterhalter, zugleich Bruder und
Widerpart des Weltenherrschers. Liegen die beiden Gottheiten im Streit, droht
der Kosmos wieder im Chaos zu versinken. Bei einigen Völkern hat der
Welterhalter die Gestalt eines riesigen Drachens. Bei den Toba-Batak heißt er »naga
padoha«. Er wurde von der Gottheit der Oberwelt gefesselt und gezwungen, die
Welt zu tragen, und wenn Naga Padoha sich in seinen Fesseln windet, beschwört er
ein Erdbeben herauf. Sinnbild des heilen Kosmos ist der Weltenbaum: Sein
Wurzelgrund symbolisiert den Drachen der Unterwelt, und seine Krone entspricht
der herrlichen Oberwelt.
Der Bau des Kosmos spiegelt sich in den großartigen Pfahlhäusern
altindonesischer Völker wider. Die Dichotomie von Oberwelt und Unterwelt findet
im sakralen Dachgeschoß und den Pfählen des Unterbaus ihre Entsprechung. Im
Pfahlhaus wird das zwiespältige Verhältnis beider Welten offenbar. So wie das
Dach mit seiner reichen Verzierung den unansehnlichen, als Viehstall und Kloake
dienenden Pfahlraum in den Schatten stellt, so dominiert die Oberwelt in ihrer
Pracht über die Unterwelt. Doch wie das Dach in sich zusammenfiele, sobald die
Pfähle brächen, so zerbräche die Oberwelt, stürzte die Unterwelt ein. Der
Wohnraum ist wie die Mittelwelt kein eigentlich selbständiger Bereich, denn alle
konstruktiven Teile gehören entweder noch zum Unterbau oder schon zum
Dachgeschoß, und zum Dach hin ist der Raum offen.
Beispielhaft für die Beziehung von Hausbau und Weltbild sind die alten
Pfahlhäuser der Toba-Batak. Diese Bauten haben ein geschwungenes Satteldach mit
einem hohen, vorkragenden Giebel, der über dem durch eine Falltür gesicherten
Eingang einen regensicheren Platz schafft. Vor Baubeginn prüft der Bauherr den
Hang der Pfosten, und je nach Tonhöhe erhalten sie einen bestimmten Platz.
Überhaupt hat jedes Bauelement auch symbolische Bedeutung. Kleinere Pfosten
tragen den Unterbau mit den Bohlen des Fußbodens und die etwa 40 cm hohen,
schweren Wandplanken, die an den Querseiten fünf Meter, an den Längsseiten sogar
zehn Meter lang sind. Mit an den Pfosten verstrebten Brettern wird der Raum nach
außen abgegrenzt, so daß er als Viehstall genutzt werden kann. Die ganze
Hauskonstruktion wurde früher ohne einen einzigen Eisennagel zusammengefügt. Die
Dachbedeckung aus einer dicken Lage von Fasern der Zuckerpalme isoliert den gut
gelüfteten Wohnraum, in den kaum Tageslicht fällt, und verleiht ihm angenehme
Kühle.
Auf der künstlerisch gestalteten
Vorderfront des Toba-Hauses
dominieren die massiven, »singa« (Löwe) genannten Ziermasken an den beiden Hausecken. Sie zeigen ein
monstergleiches Wesen mit aufgerissenem Maul und lang herausgestreckter Zunge.
Oft sind noch deutlich zwei Vorderbeine zu erkennen sowie Hörner und ein
mittlerer Auswuchs auf dem Kopf. Die Ziermaske steckt auf der Kante der zehn
Meter langen Seitenplanke, die offenbar den Körper des Singa bildet, an ihrem
Ende sind nicht selten die Hinterbeine herausgeschnitzt. Die Toba-Batak sehen in
Singa den Beschützer ihrer Häuser. Zweifelsohne verkörpert die Maske aber den
Naga Padoha, den Drachen der Unterwelt. So wie er Mittel- und Oberwelt tragen
muß, so ruhen auch Wohnraum und Dachgeschoß auf ihm. Eindrucksvoller kann die
Gleichsetzung von Pfahlhaus und Kosmos kaum zum Ausdruck gebracht werden.
Die Zierelemente der Vorderfront scheinen in ihrer Gesamtheit den Kosmos als
Weltenbaum wiederzugeben. Das Pfahlhaus der Toba-Batak hat somit sakralen
Charakter: In ihm ist kein Wohnen in europäischem Sinne. Nach Generations- und
Lebensalter ist jedem Bewohner ein Platz zugeordnet. Alltag und Geselligkeit finden außerhalb des Hauses
statt. Innerhalb werden die Speisen bereitet, dort ist der Ort der Ruhe, dort
wurde man geboren und dort will man dereinst sterben. Meist reihen sich in einem
Dorf vier bis sechs Pfahlhäuser aneinander.
Ihnen gegenüber stehen die großen Reisspeicher mit ausgebautem Dachboden. Der
Raum über der unteren Plattform ist rundum frei. Hier werden die Arbeiten
verrichtet und Gäste empfangen. Der schmale Dorfplatz zwischen den Häuserzeilen
ist Schauplatz des täglichen Lebens. Wegen der früher recht häufigen Fehden mit
den Nachbardörfern ist das Dorf durch einen mit stacheligem Bambus bepflanzten
Wall geschützt. Am Dorfende wächst ein riesiger Wa-ringinbaum als Sinnbild des
Weltenbaums, denn auch das Dorf bildet in sich einen Mikrokosmos. Heute gehört
diese Bauweise fast der Vergangenheit an. Bei den christlichen Toba-Batak gibt
es nur mehr wenige Dörfer, die der Beschreibung entsprechen, und nur noch
einzelne Pfahlhäuser sind in der traditionellen Weise geschmückt."