Quelle: Deutsches Weltgebetstagskomitee - Weltgebetstag 2000 - Indonesien S. 112-115


Leben der matrilinearen Minangkabau

Die Minangkabau - eine matrilineare Kultur auf Sumatra

Die matrilinearen Minangkabau auf Sumatra haben eine agrarisch geprägte Kultur, in der auch heute noch der Besitz an Haus und Boden weitgehend in der Hand der Frauen liegt, die Erbfolge in weiblicher Linie von Müttern auf Töchter erfolgt (Matrilinearität) und bei der der Ehemann selbstverständlich seinen Wohnsitz im Hause der Ehefrau und ihrer Mutter einzunehmen hat (Matrilokalität).

Bei allen widersprüchlichen Forschungsergebnissen besteht Übereinstimmung darin, daß die Minangkabau subjektiv am «adat» (ihrem tradierten Rechts- und Normensystem mit der Betonung der hohen Stellung der Frauen) noch heute festhalten und daß es immer noch in wesentlichen Angelegenheiten des Gemeinwesens wie in der vorkolonialen Zeit Adatsitzungen der Männer gibt. Die Adat-Sprache der Männer wird durch einen stark traditionellen Rekurs auf das gemeinsame Normensystem beschrieben, bei der die Sprechakte nicht hierarchische Verhältnisse zwischen den Beteiligten herstellen oder betonen, sondern das Gemeinsame rituell bestärken.

Auch heute noch werden tradierte Sitten im Alltag der Dorfgemeinschaften praktiziert. So ist es bei Hochzeiten üblich, daß die Männer beider Verwandtschaftszweige mit dem Bräutigam und die Frauen beider Verwandtschaftszweige mit der Braut die Hochzeit an verschiedenen Tagen feiern. Erst am zweiten Tag ziehen Braut und Bräutigam gemeinsam mit der weiblichen Verwandtschaft der Braut vom Mutterhaus der Braut zum Mutterhaus des Bräutigams.

Die Minangkabau-Kultur ist die weltweit noch größte bestehende matrilineare Kultur mit relativ geringen kolonialen Einflüssen.

Das Kernland der Minangkabau liegt im Westen der größten indonesischen Insel, Sumatra, wird von der Küste durch einen breiten Regenwaldgürtel abgegrenzt und liegt inmitten mehrerer hoher Vulkane. Diese Binnenlandlage hat koloniale Eroberungszüge oft 100 Jahre später als in den Küstenregionen vordringen lassen.

Die Minangkabau haben durch ihre kulturelle Vorschrift, daß die jungen Männer sich im «Ausland» fein von der eigenen Dorfgemeinschaft zu bewähren haben, mit dazu beigetragen, daß ihre Handelsprodukte in die Küstenstädte gelangten, so daß damit koloniale Raubzüge vermutlich hinausgezögert wurden. Insbesondere die im Hochland angebauten Gewürze wie Zimt und Muskatnuß waren dann aber letztlich die Produkte, die den Eroberern kolonialen Reichtum versprachen.

Bevölkerungsentwicklung und Migration

Die Minangkabau sind zwar immer noch im traditionellen Kerngebiet im Hochland Westsumatras angesiedelt, verlassen aber zunehmend das angestammte Gebiet in Richtung Padang. Ursprünglich waren in den weitgehend autonomen Dorfrepubliken strenge Grenzen der Mobilität gesetzt. Generell ist eine deutliche Entwicklung hin zu kleineren Haushalten zu beobachten. Gleichzeitig nimmt die Bevölkerung der traditionellen Dorfgemeinschaften insgesamt deutlich ab. Es werden sogar Wünsche von der älteren Generation geäußert, zu den Kindern ins Rantau (= die Fremde) zu ziehen.

Mit der zunehmenden Urbanisierung und der Statuserhöhung für administrative Berufe ziehen immer mehr Frauen in die Stadt ins Haus ihres Mannes, wo sie fern von ihren Verwandten «in starker Abhängigkeit von ihrem Mann» leben. Insgesamt wandern mehr Männer aus, was zu einem Frauenüberschuß in den Dörfern führt. Gerade die Verschiebung der quantitativen Relation der Geschlechter in den ländlichen Regionen ist ein Indiz für den inneren Verfall einer ursprünglich geschlechtssymmetrischen Kultur.

Zur Sozial- und Wirtschaftsstruktur der Minangkabau

Das Gebiet der Minangkabau ist trotz der Einfühlung der Geldwirtschaft mit Beginn dieses Jahrhunderts weiterhin eine vorwiegend agrarische Gesellschaft geblieben - 84 % des Einkommens basiert immer noch auf landwirtschaftlichen Einnahmen, bei der aber der Handel und zunehmend die staatlichen Dienstleistungen eine gewichtige Rolle spielen. Die überwiegende Wirtschaftsform ist «seßhaftes Kleinbauerntum mit Naßreisanbau und zusätzlichem Anbau von Handelspflanzen» wie «Gemüse, Tabak, Zimt, Nelken und Zuckerrohr». Daneben gibt es schon seit der vorkolonialen Zeit eine weit entwickelte, arbeitsteilig strukturierte Handwerkskultur, insbesondere Weberei, Flechten und Goldschmiede. Der Fischfang bietet in dem an stehenden Gewässern reichen Hochland eine weitere bedeutsam landwirtschaftliche Subsistenz- und/oder Erwerbsquelle. Die traditionelle Arbeitsteilung der Minangkabau, nach der die Frauen vor allem die Naßreisfelder bewirtschaften, während die Männer die recht unzugänglichen Berghänge mit Marktfruchtanbau bewirtschafteten, hat sich in den letzten 15 Jahren mit der «grünen Revolution» entscheidend verändert. Entgegen der weltweit zu beobachtenden Tendenz der Verschuldung von Kleinbauern als Folge der grünen Revolution hat sich dieses System im Kernland der Minangkabau, das ohnehin auch vorher als ökonomisch recht gut entwickelt galt, zu mehr Prosperität ausgewirkt.

Die mit künstlichen Bewässerungssystemen und der Einführung von Hochleistungssaatgut einhergehenden landwirtschaftlichen Anbaumethoden haben sich auch auf die Arbeitsteilung ausgewirkt. So müssen jetzt Pestizide gespritzt und Düngemittel gestreut werden, was sich ungefragt zur Männerarbeit herausgebildet hat. Es bleibt eine zweisträngige Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen mit einem hohen, aber nicht dominierenden Arbeitsanteil bei den Frauen, bei der die Männer die moderneren Arbeitsschritte (nach ihrer Selbstdarstellung die körperlich schweren Arbeiten) übernommen haben. Dies verschärft die aus der traditionellen geschlechtlichen Arbeitsteilung resultierende Arbeitsaufteilung zwischen den Geschlechtern. So hatten die Frauen schon traditionell alle Arbeiten der Nahrungsmittelzubereitung, des Kleidungsnähens und der häuslichen Reinigung sowie das Gros der Kindererziehungsarbeit zu leisten. Gegenwärtig ist die geschlechtliche Arbeitsteilung bei der Hausarbeit mit der europäischen zu vergleichen, d. h. die Männer beteiligen sich nur in Ausnahmefällen an der Hausarbeit, sie erledigen Reparaturarbeiten, betreuen manchmal die Kinder und helfen - produktionsweisebedingt anders - beim Hereintragen von zum Trocknen ausgelegten Früchten vor Regengüssen. Gesellschaftlich besonders hoch geschätzte Arbeiten werden tendenziell aus der Frauenhand genommen, während die quantitative Arbeitsbelastung gerade durch die zeitaufwendige Hausarbeit nicht abnimmt. Vielmehr leisten die Frauen bei den dörflichen Minangkabau insgesamt deutlich mehr Arbeit als Männer. Gravierende Veränderungen der Eigentumsverhältnisse haben sich aus der durch äußeren Druck (z. B. Kaffeeanbau im vorigen Jahrhundert bis zur Abschaffung des Kaffeezwangsanbaus 1908 durch direkten kolonialen Zwang) erfolgten Abkehr von der primären Subsistenzproduktion von Naßreis hin zu exportorientierten Dauerkulturen wie Kaffee, Muskatnuß, Pfeffer, Zuckerrohr, Tabak oder Kopra entwickelt. Das aus dem Verkaufserlös resultierende Bargeld stand den traditionell die Außenbeziehungen tragenden Männern individuell zur Verfügung und führte mit der Auflösung der Unverkäuflichkeit von Land zu einem wachsenden Landbesitz von Männern. Bereits 30 % der Naßreisfelder des Hochlandes waren Anfang der 70er Jahre durch Wiederkauf in Männerbesitz geraten, Susanne Gura (1989) schätzte den Anteil des Frauenlandbesitzes 15 Jahre später nur noch auf 50 % ein.

Adat - das angestammte Rechtssystem

Ein alter Adat-Spruch lautet:

    Der althergebrachte Adat, altes Erbe, 

    er verrottet nicht im Regen,

    noch zerbirst er in der Sonne.

 

Die das politisch-gesellschaftliche System der  Minangkabau ausmachenden traditionellen Regeln des Adat werden in den letzten Jahren zunehmend von kulturell bewußten Kreisen betont und vor dem Verfall zu revitalisieren versucht. Die Vermittlung der Adat-Regeln an die nachfolgende männliche Generation erfolgt auch heute von den Männern der eigenen Verwandtschaftsgruppe. Zum Adat gehören u. a.:

- die matrilineare Erbfolge incl. der Unverkäuflichkeit des gemeinschaftlichen Landbesitzes der Sippe,

- die Vererbung immaterieller Adat-Titel mit Rang- und Einflußkonsequenzen innerhalb der Adat Entscheidungsstrukturen von Onkel zu Neffe innerhalb einer Muttersippe,

- die Heiratsvorschriften,

- die autonome Regelung der sozialen, politischen und ökonomischen Angelegenheiten der nagari durch den Ältestenrat der Clans (penghulu),

- die matrilokale Residenz,

- die Bekleidungsvorschriften,

- die vielen kulturellen Alltags- und Festtagsregeln,

- die Sprachvorschriften für die Männer bei der rituellen Vertretung des Adat,

- die Selbstverteidigungskunst und

- die Vorschriften an heranwachsende männliche Jugendliche, zunächst das Mutterhaus zu verlassen und - in den letzten Jahrhunderten - in der Surau vor der Islamisierung in anderen Formen von Männerhäusern - zu leben und zu lernen.

 

Gerade die letzten drei Punkte sind durch die «Modernisierung» der Gesellschaft durch das öffentliche Schulwesen und die Migration in Auflösung begriffen.

Gleichwohl wird mit der Bildung von Kleinfamilien auch das matrilineare Erbrecht, ein Kernstück des Adat, allmählich unterhöhlt. So können schon seit den 30er Jahren Männer über ihr selbst erarbeitetes Vermögen verfügen und dieses seit den 60er Jahren an die leiblichen Kinder vererben1, was auch faktisch zunehmend geschieht.

Nach der Islamisierung Westsumatras, die aufgrund der räumlichen Unzugänglichkeit ca. 100 Jahre später als im übrigen Indonesien erfolgte, wurde das alte Adat-System nicht grundlegend verändert, sondern im Selbstverständnis der Minangkabau umgeformt integriert. Die Sage heißt, Islam stieg auf von den Küsten, Adat stieg herunter von den Bergen und habe dann eine friedliche Koexistenz bewirkt. Inwieweit dies eine konfliktreduzierende Theorie ist, die der Wirklichkeit nicht entspricht, läßt sich nur anhand einzelner Indikatoren überprüfen. Tatsächlich genießen islamische Würdenträger und die Religion einen außerordentlich hohen Stellenwert. Polygamie der Männer und das Verstoßen der Ehefrau nach islamischen Recht wurden gängige Praxis und werden erst seit den 70er Jahren durch den indonesischen Zentralstaat negativ zu sanktionieren versucht. Auch die Veränderungen des Erbrechts zugunsten der Männer ist auf islamische Einflüsse zurückzuführen.

Gegenwärtige Veränderungen der Lebensbedingungen

Die Surau, der bisherige Lebensort, in dem männlich-geschlechtshomoge Adat-Sprechweise, Adat-Regeln, die Selbstverteidigungskunst Pencak Silat und enge gleichgeschlechtliche soziale Bezüge gelernt wurden, ist kaum noch ein bedeutender Rückzugsort für die männlichen Jugendlichen. Auch die männliche Jugend wird also in einer für die Identitätsbildung wichtigen Phase, der Adoleszenz, aus einer bisher emotionalstabilsierenden Umgebung gerissen.

Die Umstrukturierung der Wohnumgebung vom ererbten Großfamilienhaus, hin zum Leben in Kleinfamilien hat eine Umschichtung der Erziehungspersonen zur Folge. War traditionell neben Mutter, Tante und Großmutter gerade der Mutterbruder von großer Bedeutung für die Erziehung, ist seine Autorität gegenwärtig zur Mutter - weniger zum leiblichen Vater -übergegangen', auch wenn sie keinesfalls aufgelöst ist2.

Die Schule als fremdkulturelle Institution ist schon seit Beginn des Jahrhunderts im Gebiet der Minangkabau etabliert worden, die allgemeine Schulpflicht ist seit der Unabhängigkeit nach dem 2. Weltkrieg eingeführt worden und wird bei den an klugem, situationsangemessenem ökonomischem Handeln seit alters her orientierten Minangkabau hoch geschätzt. Ein «wachsendes Ansehen von Schulabsolventen» gegenüber den traditionellen Ämtern in den Clans ist allgegenwärtig zu verzeichnen. Gab es zur Kolonialzeit noch 90% Analphabeten, so besuchten schon 1970 95-97 % aller Schulpflichtigen eine Grundschule. Immer mehr bilden auch Sekundarschulabschlüsse bei beiden Geschlechtern den Abschluß der Ausbildungskarriere.'

Aber nicht nur die Schulen haben strukturell die traditionellen Sozialisationsbedingungen umgestaltet. Auch die Familie selbst hat in ihrer Entwicklung zu Kernfamilien das sozialisatorische Umfeld von der kollektiven Orientierung hin zu kleineren Einheiten verändert. So waren im ländlichen Untersuchungsgebiet von Kato (1982) nur noch 13 % der Häuser die traditionellen großen Adat-Häuser mit mehreren Generationen unter einem Dach. Dementsprechend verringert sich für die Kinder die Wahrscheinlichkeit, im alltäglichen Leben mit den Normen und Erziehungsvorstellungen der Großelterngeneration intensiv Kontakt zu haben. Trotz aller Veränderungen zeigen viele Beobachtungen eher die erstaunliche Kontinuität der Minang-Kultur in der heutigen Welt.'

Schon Evers (1974) weist daraufhin, daß trotz der Prophezeiung eines baldigen Zusammenbruchs des Eigentumsrechts der Minangkabau zu Beginn dieses Jahrhunderts, seine Strukturen bis dato immer noch nachweisbar sind. Auch der selbst erarbeitete Besitz wird zu einem nicht unbeträchtlichen Anteil immer noch an die Kinder der Schwester und nicht an die leiblichen Kinder weitervererbt.

Astrid Kaiser

Auszug aus: Astrid Kaiser, Leben der matrilinearen Minangkabau - handlungsorientierter Sachunterricht zur Kulturenvielfalt auf dieser Welt, in: Eine (III.) Welt in der Grundschule, H.4, 1994.

Hinweis: Die Zeitschrift „Eine (III.) Welt in der Grundschule" kann kostenlos bezogen werden über: Universität Bremen, Fachbereich 12, Prof. Dr. R. Schmitt, Postfach 33 04 40, 28334 Bremen