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Die Hektik der Hauptstadt ist fern

Fröhliche Farben, Liebesmärkte und Hundegötter - die faszinierende Welt der Bergvölker von Vietnam, denen Unabhängigkeit wichtiger ist als Wohlstand

Von Serena Klein

Frauen mit zylindrischen Hüten und schwerem Silberschmuck in den Ohren stürmen aufgeregt auf den Bus mit den neu ankommenden Touristen zu. Energisch halten sie selbst genähte Decken, Kissenbezüge und bunte Armbänder in die Höhe und preisen in gebrochenem Englisch ihre Ware an. Breit lächelnde Münder entblößen vom häufigen Betelnußkauen rotschwarz gefärbte Zähne. Immer wieder klopfen schmale Hände an die Scheiben, blicken große, schwarze Augen bittend in die Augen der Fremden.

Wer von der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi in das Bergdörfchen Sa Pa im Nordwesten des Landes kommt, muß mit solchen Ankunftsszenerien rechnen. Denn in Sa Pa, dem einstigen französischen Höhenkurort, in einem wunderschönen Tal am Fuße der Tonkinesischen Alpen gelegen, leben von den 54 ethnischen Minderheiten Vietnams die ärmsten Bevölkerungsgruppen des Landes.

Vom hektischen Leben der Hauptstadt ist in Sa Pa nichts mehr zu spüren. Im Gegensatz zu Tausenden von Mopedfahrern, Lärm und Luftverschmutzung, Bankenhäusern und Modegeschäften von Hanoi gibt es in den Bergdörfern um Sa Pa herum noch nicht einmal Elektrizität. Wie Jahrhunderte zuvor leben die Bergvölker hier noch immer vom Reisanbau und der Viehzucht. Archaisch wirkende Wasserbüffel ziehen bei brennender Sonne den Holzpflug. Bauern mit kegelförmigen Strohhüten reißen mühsam mit Spitzhacken den lehmigen Boden der Felder auf, während ihre Frauen schwere Körbe mit Brennholz heim tragen.

Hung, ein Ethnologiestudent aus Hanoi, der in Sa Pa als Bergführer und Dolmetscher arbeitet, begleitet Reisegruppen auf ihrem Weg zu den Bergstämmen. Mittels seiner Hilfe dürfen Touristen die einfachen Holzhütten der Familien betreten. Gestampfte Erde ist hier der Fußboden. Ein Gestell mit zwei Matratzen, ein Tisch, Stühle für die Gäste und der Altar, an dem die Verstorbenen der Familie in Ehre gehalten werden, sind das gesamte Mobiliar. Die schwarzblauen Stoffbahnen, die draußen in der Sonne zum Trocknen hängen, zeigen, daß es ein Haus der sogenannten Schwarzen Hmong ist, die ihre Kleidung mit Hilfe des dunklen Saftes der Indigopflanze färben.

Die Dzao-Familie, in deren Holzhaus die Trekking-Gruppe spät am Nachmittag ankommt und dort übernachten wird, hat all ihr Geld in eine moderne Spültoilette und Dusche investiert. Für die Touristen hat der Zauber des Traditionellen eben auch Grenzen.

Die Frau des Hauses bereitet stundenlang auf ihren Fersen hockend das Abendessen in einem großen Wok zu. Moderne Hilfsmittel stehen ihr nicht zur Verfügung. Selbst zur Geburt ihres Kindes gehen die Bergfrauen nicht in ein Krankenhaus, erläutert Hung. Die Hochschwangeren ziehen sich statt dessen allein in den Wald zurück und kommen erst Wochen später nach Hause - mit oder ohne Kind, getreu nach dem darwinistischen Gesetz, daß nur der Stärkste überlebt.

So unkonventionell verläuft oft auch der Beginn einer Schwangerschaft. Die Angehörigen der Bergvölker mußten sich infolge der französischen Missionierungsversuche jeden Sonntag zur Messe in der Kirche von Sa Pa einfinden. Weil der Weg zum Gotteshaus zu lang für einen Morgenspaziergang war, kamen viele bereits den Abend zuvor an, und schon bald wurde aus diesem Treff ein Liebesmarkt für Jung und Alt, der ungewöhnliche Dinge zuläßt. Beispielsweise dürfen und sollen Verheiratete in dieser einen Nacht einen neuen Liebhaber finden.

Für Touristen ist der Samstag daher der interessanteste Tag, weil er die Gelegenheit bietet, alle Bergvölker auf einmal erleben zu können. Am imposantesten unter ihnen sind die Frauen des Roten Dzao-Stammes, denen die Reisegruppe am nächsten Morgen auf den Feldwegen begegnet. Ihr leuchtend roter Turban ist enorm breit und besteht aus bis zu zehn Metern Stoff, der zusammen mit dem Silberschmuck um die fünf Kilogramm wiegen kann. Außerdem rasieren sich die Frauen die Augenbrauen und Stirnhaare ab, weil dies als schöner gilt. Ungewöhnlich wie die Schönheitsideale sind auch die Gottheiten der Dzao. Die größte Verehrung genießt der Hundedrachengott, denn ihrem Stammesmythos zufolge verdanken die Dzao ihr Überleben einem Hund. Der Sage nach stand einer ihrer frühen Herrscher umzingelt von Feinden im brennenden Wald. Hätte nicht sein treuer Hund den Sprung in den nahe gelegenen Fluß gewagt und seinen Herren mit dem Feuer löschenden Wasser benetzt, wäre der Herrscher gestorben und der Stamm vernichtet worden. Der Hund als Gott und nicht als Braten - das gibt es in Vietnam nur bei den Dzao. Angebot: Geoplan Touristik (Tel. 030/795 40 21, http://www.geoplan.net/) offeriert die einwöchige Rundreise "Die Bergvölker Vietnams" ab 790 Euro, der dazugehörige Flug mit Thai Airways kostet um 900 Euro.

Artikel erschienen am 18.03.2005

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