DIE ZEIT

 

Vietnams Nähkästchen

Hoi An ist eine hübsche kleine Kolonialstadt. Touristen reisen in Jeans an – und in Boss-Anzügen ab

Von Markus Ridder

Tran Duong hält sich nicht lange mit Begrüßungsformeln auf. »Lesen Sie das zuerst!«, befiehlt er und drückt dem unbekannten Besucher ein zerknittertes Blatt Papier in die Hand. In bestem Englisch und feinster Schrift hat Duong dort die Geschichte des Hauses notiert, das seine Familie seit 100 Jahren bewohnt. Mitte des 19. Jahrhunderts von französischen Kolonialisten erbaut, zogen die Trans bereits 1910 ein; 1940 wurde Duong hier geboren und zehn Jahre später seine Schwester; heute lebt die vierte Generation seiner Familie zwischen den alten mit Intarsien aus Elfenbein und Perlmutt verzierten Möbeln. Das Haus überstand erst den Krieg mit den Franzosen unbeschadet und dann den mit den Amerikanern. Es steht in Hoi An, nicht weit vom Ben-Hai-Fluss, welcher die »demilitarisierte Zone« markiert, die im Vietnamkrieg blutig umkämpfte Grenze zwischen dem kommunistischen Norden und dem von den Amerikanern gestützten Süden. Hoi Ans Bewohner leben am und mit dem Fluss© Foto: Markus Ridder

Duong konnte sich weitestgehend heraushalten, aus den Wirren des Krieges und der chaotischen Zeit danach. »Ich bin Mathematiklehrer«, erklärt er, »und einmal eins ist immer eins – egal, welches ideologische Regime gerade herrscht.« Auch als die Kommunisten das Land von Norden her in Besitz nahmen, hatte Duong keine Probleme – anders als viele seiner Kollegen, die Geschichte oder Politik unterrichtet hatten. Einige von ihnen flohen in den Westen, meist in die USA, andere verbrachten Jahre in Umerziehungslagern und wurden danach Reispflanzer oder Rikschafahrer.

»Eine Fledermaus steht für Glück. Und Glück braucht man hier«

Auch die Stadt selbst wurde vom Krieg verschont. An einem versandeten Fluss nahe dem Chinesischen Meer gelegen, war sie strategisch uninteressant für die Okkupanten des 20. Jahrhunderts. Anders als die meisten Städte in Vietnam verfügt Hoi An heute über eine intakte historische Altstadt. 1999 hat sie die Unesco zum Weltkulturerbe erklärt und einer neuen Invasion den Boden bereitet – der des Tourismus. Dabei war der Besuch Hoi Ans für Westler bis Ende der achtziger Jahre noch verboten. Erst seit 1991, nach der Öffnung des Landes, strömt jedes Jahr eine Flut an Ausländern in das von Reiseführern als »Freilichtmuseum« gefeierte Städtchen am Thu-Bon-Fluss.

Trotz der plötzlich hereinbrechenden modernen Zeiten hat Hoi An zu einem gut Teil seinen ursprünglichen, fast dörflichen Charakter bewahrt. Mit Gleichmut scheinen die rund 800 historischen Wohnhäuser der Altstadt die neue Aufmerksamkeit zu ertragen, die sie plötzlich von den fremden Besuchern bekommen. Unter chinesisch geschwungenen, graubraunen Ziegeldächern blicken sie müde aus ihren blau lackierten Fensterläden hinab auf das Treiben zu ihren Füßen. Wie seit hunderten von Jahren zwängen sich hier morsche Holzkarren durch die engen Gässchen, treiben barfüßige Jungs urzeitlich wirkende Wasserbüffel durch die Straßen, kehren Frauen mit krummen Rücken die Holzveranden vor ihren Geschäften.

Ja, es gibt sie noch, die Ecken, in denen Hoi An wirkt wie eine mittelalterliche asiatische Provinzstadt. Unten am Fluss zum Beispiel, bei den vielen kleinen Garküchen, wo Matronen pünktlich zur Mittagszeit aus bauchigen Töpfen Cao Lau servieren, eine würzige Nudelsuppe mit Sojasprossen und Schweinefleisch. Doch wie keine andere Stadt Vietnams steht Hoi An auch für den Wandel, der das 80 Millionen Einwohner zählende südostasiatische Volk erfasst hat: Überall an der Küste entstehen neue Hotels, Souvenirshops und Touristenrestaurants, um in möglichst kurzer Zeit jene Entwicklung nachzuholen, für die Thailand einst Jahrzehnte brauchte.

Auch Duong hat sich auf die neuen Zeiten eingestellt. Als er vor zehn Jahren in Rente ging, beschloss er, sein Haus für Besucher aus dem Westen zu öffnen. »Irgendetwas musste ich schließlich tun mit meiner freien Zeit«, erklärt er. Und da er fließend Englisch und Französisch sprach und sich schon immer für das Fremde und die Fremden interessiert habe – was lag näher? Zunächst habe er immer wieder seine Geschichte erzählt, die seiner Familie und des kolonialen Hauses. Wie er damals mit den Franzosen, den Nachbarn der Trans, am Fluss spielte und wie aus den Nachbarn schließlich Feinde wurden, die spätestens 1954, nach der Entscheidungsschlacht in Dien Bien Phu, fliehen mussten. Als sich immer mehr Touristen dafür interessierten, beschloss der rationale Mathematiker, seine Geschichte aufzuschreiben. »Ich wollte nicht alles zehnmal erzählen«, sagt er und tippt sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe.

Wenn die Besucher fertig sind mit dem Lesen, sammelt Duong seine Blätter wieder ein und verstaut sie in einem kleinen Karton. Dieser steht gleich neben dem Stapel verstaubter Schulbücher aus sechs Jahrgängen, auf deren Rücken die bauchige Schrift der sechziger Jahre prangt: Mathématique. Doch nicht nur für die Welt der Zahlen kann sich der 64-Jährige begeistern. Wenn er mit seinen Gästen auf die Straße tritt, fordert er sie auf, die Augen zu schließen und sich für einen Moment vorzustellen, in Paris, Marseille oder Nizza zu sein. Und tatsächlich könnte man das Gefühl haben, in einer französischen Kleinstadt zu stehen, wenn man die Augen wieder öffnet und die Häuser des Straßenzugs erblickt, mit ihren runden Torbögen, ihren klassizistischen Balustraden, den aus der Wand ragenden Pilastern. Nur die roten chinesischen Lampions, die Duong am Vordach seines Balkons befestigt hat, holen einen wieder zurück nach Asien.

Wieder im Haus, streicht Duong fast selbstvergessen über die Lehnen der chinesischen Mahagonimöbel und deren rot-grün-blau glitzernde Intarsien. Ein Pfirsich, wie der in der Lehne des Stuhls, bedeutet »Langlebigkeit«, erklärt Duong, und die Fledermäuse, welche die Ränder des Tischs bevölkern, stehen für »Glück« – und Glück, das brauche man in so einer Stadt wie Hoi An, speziell dann, wenn man ein Haus bewohne, das so nah am Fluss stehe wie seines. »Jedes Jahr kommt das Hochwasser«, klagt Duong und verdeutlicht die historischen Wasserstände per Handkantenschlag an die türkisfarbene Wand. Als er das Jahr 1964 erwähnt, steht er auf, stellt sich auf die Zehenspitzen und streckt die feingliedrigen Mathematikerfinger weit über das Regal mit den Büchern hinweg, bis hin zu dem kolorierten Foto Ho Chi Minhs, der milde aus seinem hellbraunen Sperrholzrahmen auf Duong und seine Gäste herniederlächelt. »1964«, sagt Duong, »das war die Jahrhundertflut.«

Wenn das Wasser im Erdgeschoss steht, wie das jedes Jahr mindestens einmal der Fall ist, zieht Duong mit seiner Frau in den ersten Stock. Das lang gestreckte, fast kahle Zimmer dient sonst ausschließlich dem Andenken an die Ahnen. Das Foto eines älteren Mannes im blauen Anzug und mit großen dunklen Augen hinter daumendicken Brillengläsern dominiert den Raum. »Mein Vater«, sagt Duong und zupft an den Vorhängen, die auf dem Bilderrahmen zu thronen scheinen wie ein geschwungenes Tempeldach. Wie aus einem Fenster schaut der vor fünf Jahren Verstorbene auf die vor ihm platzierten Flaschen mit Moët-Champagner und Hennessy-Whiskey. »Die haben Freunde aus den USA zu seinem Andenken geschickt«, sagt Duong, »alte Kollegen.«

Wenn die alten Kollegen heute nach Hoi An zurückkehren, reiben sie sich die Augen über den rasanten Wandel, der Stadt und Land erfasst hat, über die Aufbruchsstimmung, die herrscht. Vor allem die Anzahl der Schneidereien ist in den vergangenen Jahren in Hoi An nahezu explodiert. »Es gibt über 300 Bekleidungsgeschäfte, und alle nur für die Touristen«, erklärt die 24-jährige Thuy, die der erhoffte Geldsegen vor sieben Jahren nach Hoi An gelockt hat. Seit fünf Jahren arbeitet sie als Verkäuferin im Anh Tri Clothes Shop, gleich gegenüber der alten chinesischen Versammlungshalle aus dem 18. Jahrhundert. Wenn die Touristen mit der Besichtigung fertig seien, sei der beste Zeitpunkt, um sie abzupassen, erklärt Thuy und springt plötzlich mit wippendem Pferdeschwanz auf die Straße. »Hey, wie geht’s euch?«, brüllt sie begeistert in die Richtung einer amerikanischen Reisegruppe, die sich durch das bunt bemalte Tor auf die Straße ergießt. Wie einem guten Freund legt sie einem der Unbekannten, über dessen Bauch sich ein rotes T-Shirt mit der Aufschrift »Good morning Vietnam« spannt, die schmale Hand auf den Arm. Doch der winkt nur wortlos ab und trottet träge wie ein Wasserbüffel seinen Leuten hinterher. »Es gibt einfach zu viele Klamottenläden«, sagt Thuy mit einem müden Schulterzucken. »Und zu viele Thuys«, fügt sie nach einer kurzen, stummen Pause hinzu.

Vor allem Nordeuropäer scheinen zur bevorzugten Zielgruppe der Boutiquen zu gehören. Jede zweite Schneiderei hat postergroße Plakate an die Schaufensterpuppen gepinnt, die zufriedene Käufer hinterlassen haben – das zumindest soll die Botschaft sein. »Hallo Nordmenn!« und »Stop her alle Danskere!«, fordern Mette und Annika ihre Landsleute auf, einmal die »nyeste Kollektioner« der »mest gaestrie Familie« zu testen. »Onze Kleren zijn fantastisch geworden«, schwärmen Jaap und Inge aus Utrecht auf einem Plakat gleich nebenan: »Dit is de meest vriendelijke Familie van Hoi An. Ze zijn snel, goed en niet te duur.«

»How much?« Das ist die am meisten gestellte Frage

Längst sind die Schneidereien für viele Touristen die eigentliche Attraktion geworden. »Wo kannst du dir auch sonst einen Anzug für 50 Dollar machen lassen?«, fragt Thuy und blättert den telefonbuchdicken Katalog eines britischen Versandhändlers durch, nach dessen Vorbild hier geschneidert wird. »Boss? Armani? Alles kein Problem – für dich nur 40 Dollar.« Lächerlich die Vorstellung, abends bei einem Glas Tiger Beer in der Tam Tam Bar anderen Reisenden ein Gespräch über die einzigartige Geschichte Hoi Ans aufzudrängen. Darüber, dass der Ort schon im 10. Jahrhundert in persischen und arabischen Dokumenten als bedeutender Hafen am chinesischen Meer erwähnt wird; dass vom 15. Jahrhundert an zunächst Chinesen, dann Japaner, Holländer, Portugiesen, Franzosen und die Briten gekommen sind; dass sie hier ihre Schiffe beluden mit Tuch, Seide, Porzellan, Papier; dass sie Warenhäuser am Fluss mieteten und schließlich eigene Niederlassungen gründeten. »How much?«, das ist die Frage, über die hier geredet wird. Wie viel hast du für das Seidenkostüm gezahlt? Was haben die gefakten Nikes gekostet, das Abendkleid? die Leinenhose? Die zehn neuen Hemden?

Die Touristen stauen sich längst nicht mehr vor den historischen Gebäuden der Altstadt, vor den Tempeln, der berühmten japanischen Brücke oder auf dem Markt, auf dem die Fischerfrauen mit ihren konischen Strohhüten wie von jeher täglich ihren Fang zerlegen und zum Kauf anbieten. Stattdessen bilden sich die Schlangen vor dem Postbüro auf der Trang-Hung-Dao-Straße, von wo aus müde Beamte jeden Tag Hunderte von Postsäcken mit Kleidung nach Europa und in die USA verschiffen.

Zwischen Mai und September bekommen die Beamten, die Kleidungs- und Postkartenverkäufer eine Atempause, dann ist Regenzeit, und die Touristen suchen sich andere Reiseziele. Doch der Regen und mit ihm die Flut bringen andere Herausforderungen. Duong zeigt in Richtung Küche, auf die Wand, deren unteres Drittel aussieht wie ein graues Action-Painting von Jackson Pollock. »Die renovieren wir gerade; wir renovieren immer irgendetwas.« Eine Unterstützung von der Stadt, die aufgrund der Architektur der Bauwerke so viele Touristen anzieht, bekomme er nicht. Wer wolle, könne aber seinen Beitrag dazu leisten, dass das herrliche Haus im französischen Kolonialstil erhalten bleibe, sagt Duong und zeigt auf eine obstkistengroße Box, die herrschaftlich auf einer hellgrünen Kommode thront, gleich neben dem Schrein für den verstorbenen Vater. »Donation 10000 Dong«, steht dort in großen schwarzen Lettern neben einem zwei Finger breiten Schlitz. Duong sagt: »Ein bisschen profitieren muss ich ja auch.«

Information:

Anreise: Hin- und Rückflug etwa mit Lufthansa ab Frankfurt am Main über Hanoi nach Danang derzeit ab 948 Euro (Sonderpreis). Von Danang am besten mit dem Bus weiter nach Hoi An

Einreise: Das Visum kann bei der Botschaft der Sozialistischen Republik Vietnam, Elsenstraße 3, 12435 Berlin, Tel. 030/53630108, oder im Reisebüro beantragt werden. Kostenpunkt für zwei Wochen Aufenthalt: 55 Euro

Unterkunft: Hotels finden sich verteilt über die ganze Stadt, ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis bieten die Hotels rund um die Nhi-Trung-Straße im Norden Hoi Ans. Thien Thanh Hotel, 34 Nhi-Trung-II-Straße, Hoi An, E-Mail: thienthanhhotel@dng.vnn.vn, www.hoianthienthanhhotel.com. Insgesamt 16 Doppelzimmer, teilweise mit Balkon und Blick auf die Reisfelder. Die Preise liegen zwischen 10 und 25 US-Dollar. Thanh Binh III Hotel, Nhi Trung Street, Hoi An, E-Mail: vothihong@dng.vnn.vn. 43 Doppelzimmer zwischen 15 und 40 US-Dollar. Das Hotel verfügt über einen Pool

Shopping: Die Zahl der Kleidungsgeschäfte beläuft sich heute auf etwa 320 – Tendenz rasant steigend. Die Konkurrenz drückt die Preise, sodass Anzüge und Kostüme bereits bei 20 US-Dollar starten. Leinenhosen kosten rund 8 US-Dollar, Hemden und Blusen werden für 5 US-Dollar angefertigt, und T-Shirts sind bereits für weniger als 2 US-Dollar zu haben. Die Preise richten sich stark nach den Stoffen und dem Verhandlungsgeschick. Die Schneider Hoi Ans orientieren sich an modernen Schnitten, wer Bilder oder Muster mitbringt, erhält eine perfekte Kopie des Originals. Eine gute Adresse ist der Anh Tri Cloth Shop in der Nguyen Thai Hoc Street 63; Tel. 0084-510/863286; E-Mail: tram_bich@yahoo.com

Auskunft: Vietnamesisches Fremdenverkehrsamt, Konstantinstraße 37, 53179 Bonn, Tel. 0228/957540, www.vietnamtourism.com

(c) DIE ZEIT 02.09.2004 Nr.37

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