Aus: Viet Nam Kurier 2/2001

Markt-Tage

Eine Liebesgeschichte von Nguyen Van Hoan

Damals war H’nia keine reguläre Marktfrau. Die Fünfzehnjährige ging einfach den Älteren nach, den Berg hinunter in die Stadt Sa Pa, wo sie Schals, Röcke und Honig verkaufen wollten. Seit Sa Pa das Interesse von Touristen gefunden hatte, kamen die Westler in Scharen. Da sie gern die von den H’Mong gewebten Schals und Röcke aus Brokat als Andenken mit nach Hause nahmen, waren diese Stücke sehr gesucht. So kamen diejenigen, die etwas verkaufen wollten, mit denen mit, die zum Liebesmarkt wollten. Eigentlich ging heutzutage kaum jemand zum Liebesmarkt, schon gar nicht so jemand wie sie.

Der Liebesmarkt war ihrer Meinung nach ein Ort, wohin endlos leidende verheiratete Frauen gingen, um ihr Leid mit ihrem alten Schwarm zu teilen. Nur ein einziges Mal im Jahr trafen sie sich auf dem Liebesmarkt von Sa Pa. Wie konnten sie ihr ganzes Leid miteinander teilen?

"Nein, niemals! Wenn ich erwachsen bin, werde ich einen jungen Mann zum Heiraten finden, den ich liebe, und dann werde ich nie zum Liebesmarkt gehen müssen", beschloß H’nia bei sich.

Auch Apao hatte nicht die Absicht, zum Liebesmarkt zu gehen. Nach der Arbeit im Maisfeld war alles, was er wollte, eine Schale Pho-Suppe in Sa Pa. Und wenn er jemanden zum Kreiselspielen fände, würde er diesen Nachmittag nach Herzenslust spielen. Obwohl er beim vergangenen Sai San-Fest mehrere Tage lang den Kreisel geschlagen hatte, war er dessen noch immer nicht überdrüssig.

Die Zukunft des Liebesmarkts von Sa Pa lag im Ungewissen. Schon die Bezeichnung war verschwommen. Zum Liebesmarkt gehen konnte einfach bedeuten: zum Markt gehen. Der eigentliche Markt öffnete am Tage, aber der Liebesmarkt, nur für diejenigen sichtbar, die nach ihm suchten, begann bei Einbruch der Dunkelheit. Einige Paare trafen sich auf dem Markt in der Nähe des Stadtzentrums, in einer engen Gasse, gesäumt von provisorischen Ständen, die alle möglichen Feldfrüchte, Brokatstoffe und andere nützliche Dinge für die Angehörigen der H‘Mong, Dao, San Diu, Lo Lo und weiterer ethnischer Minderheiten anboten. Andere Paare verbrachten nur kurze Zeit auf dem Marktplatz und zogen sich dann auf die umliegenden Bergkuppen zurück, wo sie ungestört miteinander reden, Lieder singen, einander umarmen und Liebe machen konnten.

Ausländer und Leute aus dem Flachland kamen nach Sa Pa, um Dao- und H’Mong-Mädchen in ihren farbenprächtigen Trachten mit dem Kopfputz aus Brokat zu sehen, oder um Produkte aus dem Wald zu kaufen wie frischen Bienenhonig.

Aber nicht danach stand Apao der Sinn. Er betrat eine Suppenküche, stellte seinen Korb ab, legte sein gebogenes Messer auf die Bank und bestellte zwei Schalen Pho. Er schlang die Nudeln hinunter und bestelle weitere Portionen, bis er nicht mehr konnte. Dann bummelte er über den Markt, bewunderte die Angebote der verschiedenen Stände. Wie schön die Sachen waren! Es war schon spät am Nachmittag, als er H’nia sah. Er wandte sich sofort von den Auslagen ab und folgte ihr. "Was für ein schönes H’Mong-Mädchen", sagte er sich.

H’nia hatte die Bambussprößlinge und den Honig verkauft und ging zu Frau Noi, die auf der Straße Schals und Röcke feilbot, um die sich die Touristen drängten. Nur auf der Straße konnte sie alle ihre Waren an Ausländer und Leute aus dem Flachland verkaufen. Als Frau Noi ihren ganzen Vorrat los geworden war, hatte H’nia noch einige Schals übrig, als vier einheimische Jugendliche sie belästigten und überallhin verfolgten. Auf Frau Nois Schimpfen erwiderten sie nur, da H’nia keine silberne Halskette trage und auch kein fünffarbiges Band um ihr Handgelenk geschlungen sei, hätten sie das Recht, sie zu umwerben. H‘nia war sehr wütend, konnte aber nichts ausrichten. Sie hatte sich vorgenommen, vor Einbruch der Dunkelheit alles zu verkaufen, um nach Hause gehen zu können, denn wenn sie bliebe, würde man sie für ein Mädchen auf dem Weg zum Liebesmarkt halten. Jedesmal, wenn sie an den Liebesmarkt dachte, ging ein Schaudern durch ihren Körper.

Als Apao bemerkte, daß vier andere H’nia mit vulgären Bemerkungen verfolgten, stellte er sie ärgerlich zur Rede: "Schämt Ihr Euch nicht, so zu reden?"

Sie dachten, Apao wolle sie für sich haben. Einer von ihnen rief: "Mit welchem Recht machst Du mir Vorschriften?" Ein anderer ließ herausfordernd seine Muskeln spielen: "Du willst das Mädchen wohl auch haben? Dann mußt Du erst mit uns kämpfen!"

Apao hatte keine Angst, aber hier wollte er keine Schlägerei. "Hier sollten wir uns lieber nicht schlagen, wegen der Polizei. Ihr könnt Euch mit mir im Kreiselspiel messen. Wer gewinnt, kann sie haben."

Die Herausforderung wurde sofort angenommen, denn die Vier mochten das Spiel auch. Sie gingen zu einem weiten Platz vor der Kirche. Apaos Kreisel aus hartem cam lai-Holz machte kurzen Prozeß mit zwei Kreiseln, die aus weicherem Holz gefertigt waren. Ein weiterer Junge nahm seinen Kreisel und ging weg, so daß nur noch einer der Vier übrig blieb. Der Wettstreit blieb lange unentschieden - beide Kreisel bestanden aus cam lai-Holz - und wurde so heftig geführt, daß er eine große Zahl neugieriger Marktbesucher anzog.

Nach der 15. Runde bereitete Apao seinen Schlag sorgfältig vor, traf sein Ziel, und der gegnerische Kreisel ging entzwei. Apao war der Sieger. Er rannte weg von der Kirche in die engen Gassen auf der Suche nach H’nia. Er konnte sie nirgends finden, weder oben auf dem Paß noch unten auf dem Markt. War er zu spät dran? Am Nachmittag hatte er sie gesehen, frei wie ein Vogel im Dschungel. Jetzt konnte der Vogel überall und nirgends sein. Apao fühlte sich niedergeschlagen und beunruhigt. Sie hatte vielleicht alles verkauft und war schon zu ihrem Übernachtungsquartier gegangen. Aber dann erblickte er sie an der Ecke einer kleinen Straße, wie sie erhitzt mit einem Ausländer um den Preis eines Schals feilschte.

Apao trat hinter sie, nahm dem Kunden den Schal aus der Hand und legte ihn in den Korb zurück. Er lud sie zu einer Schale Pho in einer nahen Suppenküche ein. Nachdem sie gegessen hatten, faßte er mit einer Hand in ihren Korb: Unter ihren kärglichen Sachen lag kein Kassettenspieler.

Diese Entdeckung machte ihn ganz aufgeregt. H’nia war ein unbescholtenes Mädchen. Er wußte, daß diejenigen, die zum Liebesmarkt gingen, immer eine Kassette mit Liebesliedern mitbrachten. Nach dem Markt saßen die Mädchen oft in Gruppen bei den leeren Buden beisammen. Später kamen die Jungen und standen um sie herum. Wenn sie nicht singen wollten, ließen sie einfach in einer modernen Version ihres traditionellen Liebeswerbens Kassetten die Lieder spielen. Dann fanden Paare zueinander und suchten sich ein ruhiges Plätzchen, wo sie im Gras auf der ausgebreiteten Decke saßen und lagen. H’nia war nicht so eine, sie hatte nicht die Absicht, sich einen Liebhaber zu suchen.

Apao und H’nia unterhielten sich nur kurze Zeit, als Frau Noi auftauchte, die H’nia gesucht hatte, und die beiden zogen sich in ein Gasthaus zurück. Frau Noi sagte ihr, sie solle sich bald schlafen legen, damit sie am Morgen früh den Heimweg antreten könnten.

Die ganze Nacht wälzte sich Apao im Bett herum und dachte an H’nia. Er fürchtete, sie nicht mehr wiederzusehen. Am nächsten Morgen stand er sehr früh auf, um sie am Straßenrand abzupassen. Als sie kam, hielt er ihre Hand lange Zeit fest in der seinen und versicherte, sie würden einander am Markttag in einem Jahr wieder treffen.

***

Apao traf H’nia vor einem Stand mit Stickereiwaren. Sie sah schöner aus denn je. Er brachte sie den Hang des Pun-Berges hinauf, wo im Schatten einer alten Fichte dicke Büsche Schutz boten. Nebeneinander liegend erzählten sie einander von ihrem Leben im vergangenen Jahr. Sie redeten, und sie sangen die traditionellen Lieder. Dann liefen sie hinunter zum Markt und kauften ein, auch einige Geschenke für einander. Apao erstand für sie eine Halskette, und H’nia schenkte ihm einen kleinen Gong. Sie würden zwei weitere Ernten abwarten müssen, bevor sie heiraten konnten.

Dann aber, zwei Reisernten später, war etwas geschehen. Im Frühling war Apao volljährig geworden. Am diesjährigen Markttag würden sie sich treffen und die Vorbereitungen für ihre Hochzeit besprechen. Apaos Familie hatte es geschafft, genug Reis, Alkohol und einige Schweine zusammen zu bringen, und H’nias Familie hatte eine Decke und einige Kissen für sie gemacht. Apao war frühzeitig beim Treffpunkt und wartete mehrere Stunden auf sie. Schließlich kam sie mit schweren Schritten den Hügel herauf. Apao rannte hinunter, um sie willkommen zu heißen. Er hatte sie kaum erreicht, als sie weinend zusammenbrach. Er half ihr auf und führte sie zu der alten Fichte. In dieser Nacht berichtete sie ihm, wie Api, der Sohn eines Bezirksbeamten, sie entführt hatte.

***

Eines Nachts war H’nia vom Licht des Mondes, das auf ihr Bett schien, aufgewacht. Es war sehr still. Fast ein Jahr war vergangen, und sie hatte aus Furcht, daß Apis Bande ihr auflauern könnte, nicht ausgehen und die wunderbare mondbeschienene Landschaft genießen können. Jetzt trat sie aus dem Haus, um die vom Mondlicht überfluteten Aprikosen- und Pflaumenbäume zu betrachten. Plötzlich brachen vier schwarze Gestalten aus dem Dunkel, packten sie, schleppten sie zu Apis Haus und sperrten sie in eine kleine Kammer. Am nächsten Tag ging Api zu H’nias Vater, um ihm zu berichten, was in der Nacht geschehen war. Der alte Mann wußte, daß da nichts mehr zu machen war, ging zu Api, versprach ihm seine Tochter zur Frau und holte H’nia ab. H’nia gehörte nun zu Apis Familie. In diesem Leben konnte sie Apao nicht heiraten. Welchen Sinn hatte ihr Leben jetzt noch?

Apao war wie betäubt vor Schmerz. Wenn H’nia sterben sollte, würde er auch sterben. Zu sterben war nicht so schwer. Sie mußten nur eine Handvoll ngon-Blätter essen. Aber würden sie als Geister zusammentreffen können, würden sie ihre verlorene Liebe beklagen können? Apao besann sich. Er würde nicht sterben. H’nia war überrascht über diese Entscheidung.

Apao sammelte sich und tröstete sie: "Es ist schon immer so gewesen: wenn zwei Liebende bei den H’Mong einander nicht heiraten können, dann treffen sie sich auf dem Liebesmarkt. Uns bleibt immer noch unser eigener Liebesmarkt bei der alten Fichte." Als Ausgleich für ihr Los würden sie diese Nacht miteinander schlafen.

Sie kehrten nach Hause zurück und von da an warteten sie jedes Jahr auf ihre Liebesmarkt-Tage. Apao heiratete, und H’nia bekam einen Sohn. Im folgenden Jahr gingen sie wieder zum Liebesmarkt. Sie trafen sich an der alten Fichte und erzählten einander, was das Jahr über in ihrem Leben geschehen war.

Apao berichtete, daß er ein Mädchen aus seinem Dorf geheiratet habe. Drei Monate nach dem Hochzeitstag war seine Frau ihm immer noch gleichgültig. In den pechschwarzen Nächten ging er mit seinen Freunden einen trinken, und in mondhellen Nächten spielte er mit ihnen die Flöte und machte jungen Mädchen den Hof. Niemand konnte ihn am Trinken und Flirten hindern, denn das war H’Mong-Tradition.

***

Apao kam sehr spät in Sa Pa an. Die Sonne war schon hinter den Pu Luong-Bergen untergegangen. Er konnte H’nia an der alten Fichte nicht finden. Nach langem Warten ging er zum Markt hinunter, um sie bei den Stoff-Ständen zu suchen, aber sie war nirgends zu sehen. Er war sehr beunruhigt. Es hatte tagsüber nicht geregnet, warum war sie so spät dran? War sie krank? Oder hatten wilde Tiere sie angefallen? Dunkelheit senkte sich über die ganze Stadt. Ohne es zu wollen, schlief Apao schließlich ein. Als er aufwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Wieder suchte er die Straßen nach ihr ab. Vor dem Suoi Mo-Hotel entdeckte er H‘nia in den Armen eines Touristen, der sie leidenschaftlich küßte. Er kehrte zur alten Fichte zurück.

Sie würde früher oder später kommen, und er würde sie töten, um seine Wut und seinen Haß zu stillen. Aber nachdem er eine Weile hinter einem Busch auf sie gewartet hatte, überlegte er es sich anders. Er würde H’nia leben lassen, damit sie ihre Kinder aufziehen könnte, die ihm so ähnlich sahen. Er schlug auf die Büsche rund um die Fichte ein und schnitt eine tiefe Kerbe in den Baum, bevor er sich stumm auf dem Heimweg machte.

Nachdem der Tourist sie losgelassen hatte, irrte H’nia lange verstört herum. Dann kam sie mit dem Gedanken an ihren Liebesmarkt-Tag wieder zu sich. Bei der Fichte angelangt, wußte sie Bescheid. Aber sie wartete und wartete. Wenn Apao kommen und sie töten würde, dann wäre das in Ordnung, dachte sie.

Allein bei dem Baum dachte sie daran, was ihr in der vergangenen Nacht widerfahren war. Am Eingang zum Hotel hatte der Mann einige Schals und Röcke zu einem hohen Preis gekauft, viel höher als üblich, und sie aufgefordert, mit ins Hotel zu kommen, um das Geld zu holen. Er hatte ihr etwas zu trinken gegeben, und daraufhin war sie ohnmächtig geworden.

Jetzt hatte sie alles verloren. Apao würde nicht zu ihr zurückkehren. Sie hatte niemand, den sie auf dem Liebesmarkt treffen könnte. Ja, manche gingen auch allein zum Liebesmarkt, aber das war nach dem Tod ihrer Geliebten. Am Ort ihrer ersten Begegnung sangen sie dann die alten Lieder. Das Singen heiterte ihr schweres Herz auf, da sie glaubten, die Geister ihrer Partner könnten sie hören.

Doch Apao war nicht tot und war kein Geist. So saß H’nia bei der Fichte und sang, aber Apao konnte die Lieder nicht hören und nichts über ihr schreckliches Erlebnis in der vergangenen Nacht erfahren. Am nächsten Morgen erwachte H’nia sehr früh. Im Wald suchte sie nach ngon-Blättern, sammelte ein Bündel davon und kehrte zu der alten Fichte zurück. Sie würde unter diesem Baum sterben, so würde die Erinnerung an ihre Markt-Liebe ewig anhalten. Aus ihrem Regenmantel und der darübergebreiteten Decke machte sie sich ein Lager. Erinnerungen an ihre Liebe überstürzten sich in ihrem Kopf, und sie fühlte sich einsam wie nie zuvor. Sie mußte weinen, weil sie diese Welt allein verlassen sollte. Wo war Apao in diesem Augenblick? Würde er jetzt ihre Gefühle verstehen? Aber als sie dabei war, die ngon-Blätter in den Mund zu stecken, dachte sie an ihre Kinder Asung und Apai, zwei heilige Andenken an Apao. Nein, sie durfte nicht sterben. Sie kehrte zurück in ihr Dorf auf dem Gipfel des Pu Luong, um ihr bitteres Leben fortzuführen.

***

Die Zeit verging schnell. Im Lauf der Jahre wuchs die Kerbe an der alten Fichte zu, und die Büsche darum herum grünten wieder, als ob sie die tragischen Ereignisse dieses Platzes ausgelöscht hätten. Wenn das Sommersonnenlicht sich über den Hang des Pun ausbreitet, stehen die Büsche erneut in Blüte, als wäre nichts geschehen.

Quelle: VNS 6.5.2001, aus dem Englischen von Van Minh übersetzt von Marianne Ngo