Albanien 2c |
Der Kanun und die Blutrache
Ein trauriges Kapitel im heutigen Albanien ist die sogenannte 'Blutrache'. Vor allem im Norden bekämpfen verfeindete Familien sich über Generationen hinweg. Während der kommunistischen Diktatur unterdrückt und hart verfolgt, berufen sich heute viele wieder auf den mehr als 600 Jahre alten 'Kanun', die mündlich tradierten Gesetze, die das Zusammenleben der Menschen regelte. Eine zentrale Stellung nimmt die 'Ehre' ein.
"...Tötet ein Mann ein Mitglied einer anderen Familie sieht der Kanun zunächst eine Buße für den Täter vor. Gleichzeitig fällt er mit der Tötung «in das Blut des Opfers». Er verliert seine körperliche Integrität und läuft Gefahr, selbst getötet zu werden. Der Teufelskreis der Blutrache beginnt. Ursprünglich galt die Blutrache nur für den Täter, später wurde sie auf alle männlichen Angehörigen der Familie ausgedehnt. Kinder und Frauen sind im Kanun von der Blutrache ausgenommen. Da «das Blut nie verloren geht», folgt auf eine Blutrache zwingend eine neue Blutrache. Ist die Familie des Opfers nach der ersten Tötung «Herr des Blutes», fällt sie nach vollzogener Blutrache ihrerseits ins Blut der Familie des ersten Täters. Wer getötet hat, ist der Familie des Opfers bekannt, da sie informiert werden muss. Ihr bleibt kaum etwas anderes übrig, als zur Blutrache zu schreiten, da ein Verzicht von der Gemeinschaft als unehrenhaft angesehen wird....
(J.-C. Gerber: Was es mit dem Kanun auf sich hat http://www.20min.ch/wissen/news/story/Was-es-mit-dem-Kanun-auf-sich-hat-21620363 )
Die Ordensschwester Christina Färber versucht in Shkodra gegen die Blutrache zu kämpfen und betreut von der Blutrache betroffene Familien, vor allem die traumatisierten Kinder (s. Kapitel Shkodra 'Schwester Christina').
Hier einige Links zum Kanun und zur Blutrache:
01. Kanun: Kompletter Text auf Deutsch:
http://www.elsie.de/pdf/B2001DerKanun.pdf oder http://engstfeldfilm.de/download/Der Kanun.pdf oder http://opinioiuris.de/quelle/1600
02. Universität Wien: Diplomarbeit von Redi Isak - Der Kanun in Albanien - Gewohnheitsrecht im modernen Staat? (2011)
http://www.design.kyushu-u.ac.jp/~hoken/Kazuhiko/2011DerKanun.pdf
03. J.-C. Gerber: Was es mit dem Kanun auf sich hat
http://www.20min.ch/wissen/news/story/Was-es-mit-dem-Kanun-auf-sich-hat-21620363
04. Llazar Semini, AP: «Die Blutrache ist völlig absurd»
http://www.20min.ch/wissen/news/story/-Die-Blutrache-ist-voellig-absurd--28235569
05. Ralf Bauerdick, 11.03.2013, Focus: Rückkehr der Blutrache - Albanien versinkt in mörderischer Gewalt
06: Renato Çumani: Der Kanun ist zurück, in: newsletter Albanien, Schweizer Zeitschrift für die Zusammenarbeit mit Albanien
http://www.albanien.ch/nla/Art125.html
07: Claas Relotius: Tödliche Tradition - Blutrache in Albanien, in Cicero - Magazin für politische Kultur, 28. März 2012
http://www.cicero.de/weltbuehne/blutrache-albanien/48784
08: Deutsche Welle 09.10.2012 : Kirche kämpft gegen Blutrache in Albanien
http://www.dw.de/kirche-k%C3%A4mpft-gegen-blutrache-in-albanien/a-16294635
09. Peter Münch, Süddeutsche Zeitung 19.5.2010: Gefangen in der Freiheit - Blutrache in Albanien
http://www.sueddeutsche.de/politik/blutrache-in-albanien-gefangen-in-der-freiheit-1.914815
Videos
SF1 Reporter Blutrache in Albanien - Wenn die Ehre mehr zählt als das Leben
http://www.youtube.com/watch?v=_n9vzXN2sgg
Gefangene Kinder - Blutrache in Albanien
http://www.youtube.com/watch?v=IEArQ9PX6iY
KIRCHE IN NOT: Kanun - das dunkle Gesetz
Wikipedia-Artikel: http://de.wikipedia.org/wiki/Kanun_%28Albanien%29
Beim Kanun (albanisch unbestimmte Form; bestimmte Form: Kanuni) handelt es sich
um das mündlich überlieferte alte Gewohnheitsrecht der Albaner.
Formen
Wenn von Kanun die Rede ist, meint man meist den Kanun des Lekë Dukagjini, da
dieser am besten dokumentiert wurde und als erster schriftlich festgehalten
wurde. Es gab aber diverse regionale Varianten wie zum Beispiel Kanun von
Skanderbeg (alb. Kanuni i Skënderbeut), Kanun i Arbërisë, Kanun der Labëria (Kanuni
i Labërisë) und Kanun der Malësia e Madhe (Kanuni i Malësisë së Madhe).
Kanun des Lekë Dukagjini
In den nordalbanischen Bergen waren die Bewohner durch die dortigen
geografischen Gegebenheiten so von der Außenwelt abgeschottet, dass sich hier
ein aus dem Mittelalter stammendes, möglicherweise sogar vorrömisches
Gewohnheitsrecht bis in die Neuzeit erhalten hat. Dieses wird in seiner
meistzitierten Fassung als Kanun des Lekë Dukagjini (alb. Kanuni i Lekë
Dukagjinit) bezeichnet, nach einem zu Skanderbegs Zeiten lebenden mächtigen
Fürsten. Unwahrscheinlich ist die häufige These, dass Lekë (Alexander) Dukagjini
(1410–1481) Namensgeber oder sogar Urheber dieser Gesetzessammlung war. Lek ist
vielmehr das albanische Wort für Gesetz (heutiges Standard-Albanisch: ligj).
Grundlage des Kanuns ist das Leben in der Großfamilie, in welcher in der Regel
drei Generationen unter der Anführerschaft des ältesten Mannes unter einem Dach
wohnten. Die Gesetzessammlung regelt die Bereiche Schuldrecht, Ehe- und
Erbrecht, Strafrecht sowie Kirchen-, Landwirtschafts-, Fischerei- und Jagdrecht
ziemlich umfassend. Im Strafrechtsbereich ist der Kanun noch von der
Ehrverletzung geprägt, wobei der Begriff des Gottesfriedens als Teilaspekt der
Besa bereits bekannt ist. Da der Kanun bis heute tief im Denken der
nordalbanischen Gegen verwurzelt ist, entsteht oft ein Konflikt zwischen
modernen Gesetzen und dem Kanun. Die Frauen spielen im Kanun eine marginale
Rolle und haben kaum Rechte. Sie gelten als „Schlauch“ (shakull), „in dem die
Ware transportiert wird“, sind aber auf der anderen Seite unverletzlich, wenn es
zu Ehrverletzungen kommt.
Die Nordalbaner erkannten keine zentrale Herrschaft an. Streitigkeiten wurden
auf Versammlungen (Kuvend) der Familienoberhäupter eines Dorfes oder Stammes
geregelt, etwa vergleichbar einem germanischen Thing oder einer Schweizer
Landsgemeinde. Einzige weltliche Autorität war der Kapedan („Kapitän“), der
jeweils vom Oberhaupt der Familie Gjonmarku gestellt wurde. Er war Anführer der
Mirditen und letzte Instanz in Entscheidungen und Streitfragen. Die Rechte der
privilegierten Familie und die Rolle des Kapedan waren im Kanun genau
umschrieben. Jeder Mirdite, der jemanden tötete, musste den Gjonmarku eine
Abgabe zahlen.
Kanun i Papazhulit
Im Süden des Landes bestand ein nur in Details verschiedener Kanun i
Papazhulit, auch Kanun i Labërisë, der auf die unterschiedlichen sozialen,
religiösen und gesellschaftlichen Umstände Rücksicht nimmt. Im weniger
abgeschiedenen Südalbanien waren die Bedeutung und die tiefe Verwurzelung in der
Bevölkerung aber viel geringer.
Besa
Der ganze Kanun baut auf der Ehre auf, aus der sich zahlreiche Pflichten,
negative Aspekte wie die Blutrache, aber auch positive Aspekte wie das Gastrecht
und die Besa ableiten. Letztere lässt sich nicht direkt ins Deutsche übersetzen,
sondern umfasst die Begriffe „Friedenspakt, Allianz, Waffenstillstandsabkommen,
gastfreundschaftliches Bündnis, Ehre des Hauses, Ehrenwort, Schwur,
Sicherheitsgarantie, Loyalität, Treue und anderes mehr“[2]. Die Besa schützt von
der Blutrache Bedrohte für gewisse Zeiten oder Orte vor Verfolgung und entbindet
gleichzeitig den zur Blutrache Verpflichteten, ein Verbrechen zu rächen. Die
Besa konnte einerseits zwischen Personen oder Familien vereinbart werden. Sie
wurde zum Beispiel für wichtige Besorgungen, Feldarbeit, familiäre Feiern oder
kirchliche Feiertage gewährt. Meist wurde auch dem Mörder für gewisse Zeit nach
einer Blutrachetat Besa gewährt. In der Besa für Vieh und Hirten erlaubten
Stämme untereinander, das andere Stammesgebiet zu bestimmten Zeiten und auf
bestimmten Strecken bereisen zu dürfen. Die allgemeine Besa unterband alle
Sühnetaten in Kriegszeiten.
Daneben waren aber auch ganze Personengruppen wie Frauen, Kinder oder Priester
vor Verfolgung geschützt.
Ein besonderes Versprechen ist dasjenige der Eingeschworenen Jungfrauen, niemals
eine sexuelle Beziehung einzugehen, dafür ein Leben wie ein Mann führen zu
können.
Etymologie
Kanun oder Qanun ist ein Begriff aus dem Türkischen für ein vom osmanischen
Sultan erlassenes Gesetz. Das Wort stammt ursprünglich von griechisch κανών (kanón)
respektive lateinisch canon („Richtschnur“) ab.
Geschichte
In den unzugänglichen nordalbanischen Gebirgen hatten die Osmanen, die das Land
rund 500 Jahre lang besetzten, nie wirklich die Macht erlangt. Somit konnten sie
dort auch nicht ihre Gesetze einführen. Mangels anderer staatlicher Macht konnte
sich der Kanun deshalb bis in die Neuzeit erhalten.
Das immer nur mündlich überlieferte Gesetzeswerk wurde erstmals vom
Franziskanerpater Shtjefën Gjeçovi (1874–1929) am Ende des 19. Jahrhunderts in
der Version des Kanun des Lekë Dukagjin gesammelt und in der Folge in Teilen
publiziert. Die erste vollständige Publikation erschien 1933 in Shkodra.
Während der kommunistischen Diktatur in Albanien war der Mechanismus der
Blutrache sistiert; denn der Staat konnte seine Rechtshoheit landesweit
durchsetzen. Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus anfangs der 1990er Jahre hat
sich insbesondere die Blutrache wieder etabliert. Der junge demokratische Staat
war zu schwach, um diese Dynamik der Selbstjustiz regulieren zu können. Erst das
Erstarken des albanischen Staates nach den Unruhen von 1997 führte zu einem
langsamen Rückgang der Blutrache-Konflikte. Heute sollen – je nach Quelle –
wieder bis zu 15.000 albanische Familien in Blutrache-Konflikte verstrickt sein,
die zum Teil auf Vorfälle vor dem Zweiten Weltkrieg zurückgehen. Dabei werden
die regulierenden Bestimmungen des Kanun aber meist nicht eingehalten, so dass
auch Kinder und Frauen bedroht werden und in ärmlichen Verhältnissen zu Hause
gefangen sind. Dieses Aufweichen der Regeln veranlasste Gjin Marku, Vorsitzender
des schlichtenden Komitees der Nationalen Aussöhnung, von einer degenerierten
Form des Kanuns zu sprechen.
Die katholische und die islamische Geistlichkeit in Nordalbanien sprechen sich
konsequent für die Achtung des bürgerlichen Rechts und damit für die Sistierung
des Kanuns aus. Ihr Einfluss ist allerdings begrenzt.
1990 haben in Kosovo, Mazedonien und Montenegro über eine Million Albaner an
verschiedenen „Versöhnungszeremonien“ teilgenommen. Diese wurden von einer
Gruppe um den Soziologen Anton Ceta († 1995) organisiert. In Albanien gibt es
seit einigen Jahren ein sogenanntes „Versöhnungsprojekt“, bisher aber nur mit
kleinen Erfolgen.