Ein besonderes Erbe - Seite 1


Nadja Thelen-Khoder

Ein besonderes Erbe

 

(Originaldatei: 01-Ein Erbe.pdf)


Wenige Monate vor ihrem Tod erzählte mir meine Mutter, in ihrem Geburtsort, den ich nur von Erzählungen und zwei Beerdigungen her kannte, seien wenige Tage vor Kriegsende russische Zwangsarbeiter im Wald ermordet und verbuddelt worden. Wenige Wochen nach der Befreiung hätte man sie gefunden, und die Bevölkerung habe an den Leichen vorbeigehen müssen. Sie, ihre Schwester und ihr zukünftiger Schwager seien dabei gewesen, und es sei wirklich schlimm gewesen. Mein damals 17jähriger Onkel habe sehr geweint. Richtig und gut sei es von den Amerikanern gewesen, die Menschen dazu zu zwingen, Wahrheiten zur Kenntnis zu nehmen. Niemand hätte sagen können, er habe "von all dem nichts gewusst". Der Ort des Geschehens hieße Langenbachtal.
 

Langenbachtal – so heißt also ein besonderes Erbe meiner Mutter.
 

Von russischen Zwangsarbeitern hatte sie ihr ganzes Leben lang erzählt, und davon, dass es unmöglich gewesen war, "von all dem nichts gewusst" zu haben. Sie jedenfalls habe mit 18 eine Menge gewusst. Ihr Vater, der ein halbes Jahr nach meiner Geburt starb, war damals Arzt, und sie habe ihm mehrfach geholfen, die eiternden Geschwüre „auszuschaben“; sie habe oft die Arme oder Beine festgehalten, während mein Großvater sie behandelte.
 

Aber dass russische Zwangsarbeiter noch wenige Tage vor Kriegsende1 im Langenbachtal ermordetet worden waren, hatte sie nicht erzählt.


Sobald ich konnte fuhr ich in den Arnsberger Wald2 und fand die Toten nach einigem Suchen in Meschede auf dem Waldfriedhof, der auch „Franzosenfriedhof“ genannt wird, weil er im Ersten Weltkrieg für die etwa 20000 Kriegsgefangenen aus Frankreich angelegt worden war.
 

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[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Endphaseverbrechen

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_im_Arnsberger_Wald

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Eigentlich hätte ich keine Chance gehabt, die ermordeten der Massaker vom 20. bis zum 23. März 1945 zu finden. Nichts deutete darauf hin, dass die Opfer der drei „Massenerschießungen“ von Suttrop (57 Menschen), Eversberg (80 Menschen) und dem Langenbachtal (71 Menschen) alle hier lagen. Nicht die Bezeichnung des Ortes als „Kriegsgräberstätte“, nicht der Eingang mit dem großen Tor, nicht die Tafel hinter dem Eingang

 

 

- WALDFRIEDHOF FULMECKE -
DER FRIEDHOF WURDE IM I. WELTKRIEG ANGELEGT
UND DIENTE ALS RUHESTÄTTE FÜR KRIEGSGEFANGENE
MEHRERER NATIONEN (INSBES. FRANZOSEN), DIE IM
MESCHEDER KRIEGSGEFANGENENLAGER VERSTORBEN WAREN.
FRANZÖSISCHE, BELGISCHE UND ITALIENISCHE KRIEGSTOTE
WURDEN NACH DEM I. WELTKRIEG IN IHRE HEIMAT ÜBERFÜHRT.
FÜR DIE RUSSISCHEN UND POLNISCHEN KRIEGSTOTEN DES
I. WELTKRIEGES BLIEB DER WALDFRIEDHOF DIE LETZTE RUHRSTÄTTE.
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IM JAHRE 1964 WURDEN 121 UNBEKANNTE RUSSISCHE TOTE AUS
DEN GEMEINDEN SUTTROP UJND WARSTEIN NACH HIER ÜBERFÜHRT.
IN DEN JAHREN 1965/66 ERFOLGTE DIE VÖLLIGE
NEUGESTALTUNG DES FRIEDHOFES.
HEUTE RUHEN HIER 287 RUSSISCHE UND POLNISCHE KRIEGSTOTE.
DAS SCHMIEDEISERNE TOR MIT DEN SANDSTEINFLÜGELMAUERN
SOWIE DIE FIGUR DES FRANZÖSISCHEN SOLDATEN SIND ARBEITEN
UNBEKANNTER FRANZÖSISCHER KRIEGSGEFANGENER.
DIE STELE IM HINTEREN BEREICH DES FRIEDHOFES WURDE
NACH DEM II. WELTKRIEG DURCH DIE SOWJETUNION ERRICHTET.
 

und auch nicht die sechs steinernen Platten mit den verschiedenen Angaben, wie viele Tote an der jeweiligen Stelle liegen:


Woher hätte ich beispielsweise wissen können, dass hier die 80 Ermordeten von Eversberg liegen?

„HIER RUHEN 80
SOWJETISCHE BÜRGER,
DIE IN DER SCHWEREN ZEIT
1945
FERN VON IHRER
HEIMAT STARBEN.“

Es war nur die angekündigte Stele ganz, ganz hinten in der Ecke, die etwas erzählte. Zuerst habe ich sie gar nicht gesehen;


 

ganz, ganz hinten stand sie,


 

und erst, als ich dicht davor stand, erfuhr ich, was in etwa „passiert“ war:

 

 

Gott sei Dank hatte die Sowjetunion damals daran gedacht, dass die meisten Deutschen kein Russisch können

und hatte den Text auch übersetzt anbringen lassen, sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch.

 

 

 

HIER RUHEN RUSSISCHE BÜRGER, BESTIALISCH ERMORDET

IN FASCHISTISCHER GEFANGENSCHAFT.

EWIGER RUHM DEN GEFALLENEN

DES GROSSEN VATERLÄNDISCHEN KRIEGES 1941 - 1945

 

Diese Stele besteht aus drei Seiten, und auf jeder steht der Text in einer der drei Sprachen.

Leider konnte ich nur Teile so photographieren, weil mir das Gebüsch im Nacken saß.

Aber man erkennt es ja auch so.

 

 

Dass auf dem „Franzosenfriedhof“ keinerlei Hinweis auf Französisch zu finden war, fand ich außerordentlich bedauerlich.


 

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