Zwangsarbeiter aus Belgien - 11


 

Ein Schrei aus Belgien

Appell der Frauen des besetzten Belgiens

an die Frauen neutraler Länder gegen die

Deportation und Zwangsarbeit belgischer Zivilisten.

15. Dezember 1916.

(Nummer 32, 1. August 1917)

 

Quelle: Almanach der Freien Zeitung, S. 44 - 49, Bern 1918

http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht/?PPN=PPN769653731


Das Dokument ist etwas gekürzt. Infolge von Grenzschwierigkeiten gelangte es erst viel später in die Hände der Adressatin, Frau Tuliette Carton de Wiart, die persönlich die Authentität des Schriftstückes bezeugt.

Offener Brief:

O ihr, die ihr nicht die würgende Angst eures bedrohten, gemordeten und geschändeten Vaterlandes kennt; ihr, die ihr nie die stechende Furcht um geliebte, feindlichen Kugeln ausgesetzte Wesen kennt; ihr, die ihr nicht gelitten habt unter den Schrecken des Ueberfalls, hört den Verzweiflungsschrei des vergewaltigten Belgiens! Wir, die diese Zeilen geschrieben oder dazu gestimmt haben, wir glauben sprechen zu können im Namen der belgischen Frauen, die mit uns übereinstimmen im selben Schmerz und im selben Aufruhr vor der schmachvollen Deportation belgischer Arbeiter, die in Deutschland der Zwangsarbeit gegen ihr eigenes Vaterland unterworfen sind. Wir wissen, daß in der ganzen Welt die Sympathien sich unserem Leid zuwenden. Trotzdem werden sich nach diesem Entrüstungsschrei, der in der ganzen Welt Wiederhall finden müßte, die neutralen Länder nicht wieder an das Schauspiel dieser neuen Ungerechtigkeit gewöhnen, die so vielen andern folgte, werden sie sich nicht entmutigen lassen von bisher erfolglosen Protesten und auf die Dauer die Klagen der Unterdrückten lästig finden?
Unser Belgien ist ein Gefängnis, in das kaum ein Ton von außen eindringen, und aus dem Klage schwer in die freien Länder entschlüpfen kann. Wir wissen nicht, ob ihr die von unsern Bischöfen, Behörden, Senaten, Abgeordneten, Provinzialräten, Gemeindebehörden, Arbeitersynldikaten, Industriellen und so vielen andern Verbänden und Persönlichkeiten an die Tyrannen gerichteten zündenden Proteste gelesen habt.
Wir wissen nicht, ob euch der frevelhafte Eingriff, den wir erdulden, in seiner ganzen zugegebenen oder von unsern Feinden entstellten Schändlichkeit bekannt ist, denn unter allen Bitterkeiten, die wir schlucken müssen seit 28 Monaten, ist nicht die geringste die, die frechen Lügen zu hören, womit in der deutsch-inspirierten Presse alle uns betreffenden Tatsachen entstellt werden.
Jetzt versuchen sie die Nationen glauben zu machen, daß unsere Arbeitslosen für sie eine Last, für uns eine Gefahr und eine Schande seien.
Nein, unsere Arbeitslosen sind keine Last für die deutschen Finanzen, da sie aus unsern nationalen Hilfsquellen und durch die Freigebigkeit des Auslandes gespeist und unterhalten werden.
Nein, sie sind keine Gefahr, da nirgends die öffentliche Ordnung gestört wurde.
Nein, sie sind keine Schande für uns, aber wohl ein Schandfleck für Deutschland.
Denn Deutschland hat unsere Arbeitslosen geschaffen. Deutschland ist es, das durch seinen brutalen Angriff im August 1914 unsern Auslandshandel verdorben und unsere blühende Industrie zerstört hat.
Deutschland hat zahllose unserer Fabriken geplündert oder verbrannt. Es hat jeden Tag neue Arbeitslose geschaffen durch Schließung oder Plünderung der Fabriken, indem es zu lächerlichen Preisen Metalle, Maschinen, Pferde, Werkzeug und Rohstoffe requirierte.
Die Deutschen heucheln Mitleid für unsere Armut. Warum lassen sie uns unsere kleinen Erträge nicht frei verteilen, anstatt die Erzeugnisse unseres Bodens nach Deutschland abzuführen und uns mit Bußen und Kriegskontributionen zu überhäufen? Man denke nur an die zermalmende Last, die für unser kleines Land mehr als eine Milliarde Steuern in zwei Jahren und vier Milliarden an Requisitionen jeder Art darstellen!
„Wer unterzeichnet, bekommt einen großen Lohn, wird gut behandelt, erhält Urlaub, seine Familie wird eine Entschädigung erhalten, wer aber nicht unterzeichnet, wird der Nahrung beraubt sein und zu Zwangsarbeit verurteilt."
Das nennt Deutschland freiwillige Verträge!
Die Mehrzahl dieser Gedemütigten hat den Heroismus, der Versuchung zu widerstehen, denn es ist so, wie der, der durch Betrug dieses Verbrechen in den Augen der zivilisierten Welt rechtfertigen will, sagt: „Wir müssen die Zaudernden und Unschlüssigen zu ihrem Glück zwingen.“ (Auszug aus einem von Exzellenz v. Bissing, Generalgouverneur von Belgien, einem Berliner Korrespondenten der „New-York Times" gewährten Interview, das von der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" vom 12. November 1916 kommentiert wurde.)
Man jagt sie auf den Bahnhof, indem man diejenigen, die aus den Reihen treten, mit Peitschenhieben zurücktreibt; man stopft sie in die Viehwagen; man hält sie dort stundenlang eingeschlossen, und manchmal zwei ganze Tage lang ohne Nahrung, ohne Luft, in bejammernswerten hygienischen Verhältnissen, bevor man sie in das Land der modernen Sklaverei befördert. Das nennt der Generalgouverneur v. Bissing: eine auf die menschlichste Art vollführte Abführung!
Am Abend, nahe beim Bahndamm, hört man aus den Viehwagen Haßausbrüche, die Klagen der Frierenden und Hungernden, oder auch, wenn der Mut wiederkommt, hört man die Hymne an das geliebte Vaterland, für das sie leiden, den glühenden, beinahe wilden Gesang der Brabanconne, aus Trotz jenen zugeschleudert, die den Körper in die Sklaverei führen, aber keine Gewalt über die Seele haben.
Warum lassen sich die Belgier wie eine Herde zum Opfer führen, fragen sich vielleicht jene, die wissen, daß sich die Belgier auf den Schlachtfeldern wie Löwen behaupteten? Oh, wenn wir Widerstand leisten könnten! Wie viele Herzen schwellen, zittern bei diesem einzigen Gedanken.
Trotzdem hätte mehr wie einer mit Gefahr seines Lebens Widerstand geleistet, aber was ihn zurückhält, das ist die Angst, gleichzeitig seine Stadt und seine Angehörigen zu opfern, denn seit Beginn wehrte sich der Eindringling durch Schreckensherrschaft und Ungerechtigkeit und Androhung von Massenstrafen gegenüber jedem persönlichen Versuch des Widerstandes und Ungehorsams, und in zahlreichen Fällen zögerte er nicht, seine Drohungen auszuführen.
Die Belgier bleiben ungezähmt. Diejenigen, die dazu kommen, die notwendigen Mittel zusammenzubringen und die feindliche Wachsamkeit mattzusetzen, überschreiten die Grenze. Und wer sagt, wie viele andere, die dasselbe versuchten, unter den feindlichen Kugeln gefallen sind oder in den Gefängnissen Deutschlands schmachten?
Und wie viele Männer, Frauen und schwache junge Mädchen im besetzten Belgien dienen schweigend dem Vaterland, täuschen die Wachsamkeit der Spione und setzen ihr dunkles Opfer fort, trotz der Verdammung, die einen nach dem andern ihrer Freunde trifft, der mit ihnen arbeitet.
Nicht nur die zerreißenden Trennungen und das Schauspiel des Elends machen die Frauen, die verlassenen Kinder, vor wilder Verzweiflung' verstummen, sondern auch die Demütigung ihrer Angehörigen, die dem Feind dienen müssen gegen die eigenen kämpfenden Brüder, und der Schimpf, sie zu dieser verworfenen Existenz geführt zu wissen, die man den erzwungenen Verrat genannt hat.
Umsonst beteuert Deutschland, daß unsere Deportierten zu keinem militärischen Dienst gezwungen werden. Seine Heuchelei wird niemanden täuschen. Wenn unsere Belgier in den Fabriken Deutschlands die Männer ersetzen, die die deutsche Front ausfüllen, ist das nicht das gleiche Resultat? Uebrigens, wenn unsere Männer dem Feinde nicht nützlich und notwendig wären, würde er dann den Familien derer, die den Arbeitskontrakt für ihn unterzeichnen, eine Unterstützung versprechen?
Und von dieser Deportation, die entgegen allen menschlichen und göttlichen Gesetzen ist, hat man sagen können: „daß sie weder ein hartes Opfer für die Bevölkerung noch für das Land ist"! (Interview mit v. Bissing).
Warum wir zu allen Protesten, die schon gemacht wurden, den unsern hinzufügen wollen und an euch richten? Weil die Frauen die Hüterinnen der Zivilisation sind, der das Verbrechen Hohn spricht.
Frauen der nordischen Länder, die ihr in ruhiger Ueberlegung die Sünden wägt, und wie man sagt, in eurem Vaterland einen so großen Einfluß ausübt; Frauen des Südens, in großmütiger Entrüstung und wildem Mitleid; Frauen ferner Länder, für die Belgien ein Unbekanntes war vor dem Krieg, aber die ihr über Bewunderung und Klage dazu gekommen seid, es zu lieben, — ihr alle, wer ihr auch seid und was ihr seid, hört unseren Schrei der Verzweiflung und gewährt uns die Gabe eurer handelnden Sympathie.
Denjenigen, die den arbeitenden Klassen angehören, rufen wir im Namen der Solidarität der Arbeiter zu: Das Gewissen der Welt hat sich einmal schon mit gutem Recht aufgelehnt bei den Razzien, die man auf afrikanische Neger machte; wird es sich nicht rühren bei den Razzien, die heute Arbeiter und Handwerker des stolzen Belgiens in die Sklaverei ab führen'?
Wir wenden uns an euch alle, Schwestern, im Namen der weiblichen Solidarität, die in euren Herzen das Echo unseres Leids erklingen lassen muß. Wir wenden uns endlich an euch, im Namen der Solidarität der Völker.
Ihr habt nicht die materielle Kraft, nicht die Macht der Regierungen, aber ihr besitzt den tiefen Einfluß, der das Gefühl bildet und umbildet. Denn jede von euch, zu Hause, kann den Gerechtigkeitssinn beleben und aufrichten.
Die unter euch, die die Gabe erhalten haben, zu reden oder zu schreiben, können die Menge aufklären, unseren Aufruf verbreiten in der unparteiischen der zwei Welten und unermüdlich die Wahrheit gegenüber den Lügen unserer Bedrücker proklamieren.
Ihr alle schließt euch uns an in idem grandiosen Appell, der auf Deutschland die Last der Anklage der ganzen Welt wälzen wird. Auf daß Tausende von Deutschen, die jetzt ihr Leben in neutralen Ländern fristen, endlich die Gefahr erkennen, die für die ökonomische Zukunft ihres Landes in der Verachtung liegt, die sich ihr Vaterland durch fortgesetzte Vergewaltigung der Gesetze der Zivilisation zugezogen hat, und vielleicht wird da der Gedanke an sein eigenes Wohl Deutschland zwingen, von nun an von weiteren ähnlichen Missetaten abzustehen.
Aus der Tiefe unseres Schmerzes flehen wir euch an, uns zu helfen. Ihr Frauen der unangetasteten Länder, bleibt nicht passiv vor der innigen Bitte eurer unglücklichen belgischen Schwestern.
 


 

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