Zwangsarbeiter aus Belgien - 12


DAS KAPITEL "BELGIEN" IN DER ZEITGESCHICHTE
von Prof. Pr. Vanderprette
(Nummer 60, 7. November 1917)

Quelle: Almanach der Freien Zeitung, S. 37 - 40, Bern 1918

http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht/?PPN=PPN769653731


"Wenn einst die Geschichte dieses Weltkrieges geschrieben wird, dann müssen die Vorgänge in Belgien nicht bloß viele Kapitel, sondern ganze Bände füllen. Es handelt sich für uns um weit mehr als um Ueberfall und Neutralitätsverletzung: die drakonische Verwaltung oder besser gesagt Vergewaltigung unseres unglücklichen Landes wird einst ihre Würdigung finden. Und sicher wird diese Würdigung zeigen, wie tief sieh das offizielle Deutschland selber entwürdigt hat. In der Schweiz beschäftigt sich, wie wir kürzlich vernahmen, eine Gesellschaft von Freunden Belgiens mit der Sammlung aller Verordnungen deutscher Behörden in den besetzten Landesprovinzen. Selbstverständlich ist, daß man gerne aller mutigen Deutschen ehrenvoll gedenken wird, die es gewagt haben, in irgendeiner Form gegen die Tyrannenherrschaft zu protestieren und ein mitleidiges Wort für unsere mißhandelte Nation zu finden. Davon sind wir tiefgerührt.
Hochstehende Persönlichkeiten, die man nicht zu bestrafen wagt, haben ihre Meinung wiederholt offen geäußert. So wurde z. B. im Spätsommer 1915 bekannt, daß der Herzog Max von Sachsen, ein Bruder König Friedrich Augusts III., sich bereits im Januar des ersten Kriegsjahres einem schweizerischen Geistlichen gegenüber schriftlich sehr scharf über die Verbrechen deutscher Truppen geäußert hat. Weniger bekannt dürfte ein Wort des echt christlich gesinnten fürstlichen Priesters sein, das im Februar 1916 vom "London Irish Citizen" angeführt wurde: „Mein Herz blutet, wenn ich daran denke, daß einer meiner Verwandten Verbrechen ohnegleichen gegen die Kirche Gottes, gegen die Priester, ihre Söhne, gegen die geheiligten Töchter und viele andere Geschöpfe angeraten und sie erlaubt hat, und daß er sich daran labt! Die einzige barmherzige Auslegung, die man seinem Betragen zuteil werden lassen kann, ist anzunehmen, wie es gewisse gute Seelen denken, daß er urteilsunfähig sei. Aber als Haupt des Deutschen Reiches ist er ohne Erbarmen."
Die Sammlung der belgischen Dokumente wird übrigens auch einige interessante Kapitel über die in Deutschland organisierte Mercier-Hetze enthalten, an welcher sich nicht bloß die bekanntesten Witzblätter wie „Kladderadatsch“, „Jugend“ und „Siinplizissimus“, sondern sogar Zentrumsorgane beteiligten — alles natürlich, um sich in Berlin beliebt zu machen. Ehedem wurde Kardinal Mercier von der sogenannten „Kölner Richtung“ hoch gefeiert. Seitdem der Kirchenfürst aber die preußische Doppelmoral bekämpft, sind seine Aktien jenseits des Rheins bedenklich gefallen. Als Katholik muß ich mich über die deutschen Brüder wundern.
Ueber die belgischen Deportationen und was damit zusammenhängt (z. B. das Spiel, welches die Berliner Regierung mit Papst Benedikt XV. getrieben hat), wird genügend Stoff zusammengetragen werden, glaube ich, durch unsern Gesandten bei der Kurie. Infolge der skrupellos organisierten deutschen Preßinformation in der Schweiz wird es während der Dauer dieses Krieges kaum möglich sein, gewisse Kreise dort über die wirkliche Lage Belgiens aufzuklären.
Sollte Deutschland wirklich dazu kommen, auf die Einverleibung unseres Landes ins Reichsgebiet freiwillig zu verzichten, so würde man dies begreifen. Man gäbe dann eben nur ein Gebiet auf, welches man gründlich verwüstet, schamlos ausgesogen und sich gründlich entfremdet hat. Durch die fortwährenden Kriegskontributionen, die Dezimierung unserer Bevölkerung, den von außen hineingetragenen Zwiespalt zwischen Wallonen und Flamländern, durch die jahrelangen Schindereien, welche sich deutsche Militär- und Zivilbeamte gegen ganze Verbände, sowie gegen Einzelpersonen erlaubt haben, ist das reiche und glückliche Belgien eine Stätte geistigen und wirtschaftlichen Elends geworden. Man hat die saftige Frucht genossen und ausgequetscht — wozu ist sie noch weiter nütze?
Andere Kreise denken freilich daran, Belgien als Sicherheit gegen England und Frankreich dauernd zu verwerten. Sie möchten sich am Aermelkanal ein zweites Reichsland schaffen, etwa wie Elsaß-Lothringen, und ihm nach dem Kriege alle Segnungen der deutschen Kultur aufzwingen. Offen gesagt: wir gönnen uns ein besseres Los. Und wir sind sicher, daß jeder freiheitlich denkende Schweizer fühlt wir wir.
Freilich wird es erst etliche Jahre nach dem Friedensschlüsse möglich sein, dem Publikum die Leidensgeschichte Belgiens an Hand der Dokumente vorzuführen. Heute macht die kaiserliche Zensur des In- und Auslandes noch „Geschichte“. Morgen aber werden die Geschichtsforscher an die Arbeit gehen, und übermorgen werden die ersten Kapitel eines Monumentalwerkes erscheinen, welches zwar auch "aere perennius" sein dürfte, aber von dem preußischen Kultusministerium den deutschen Schulen nicht vorgeschrieben sein wird — es sei denn, daß im Reiche ein ehrliches
Geschlecht heranwachse, das die Wahrheit zu hören wünscht und sie vertragen kann. Auch diese Hoffnung wollen wir nicht gänzlich fahren lassen! Vielleicht bereitet sich doch die Geburt des neuen Deutschtums vor, dem alle Gewaltpolitik und Doppelmoral ein Greuel sein wird.
Jedenfalls muß die deutsche Politik zuerst ein ganz neues Blatt Weltgeschichte schreiben, bevor ihr
die alten Sünden verziehen werden und der Reichsdeutsche sich wieder in der übrigen Welt zeigen darf, ohne daß man ihm den Rücken kehrt, oder heimlich eine Faust in der Tasche ballt. Mir scheint oft, die Deutschen machen sich noch gar nicht recht klar, was es für sie bedeuten würde, von allen übrigen zivilisierten Völkern boykottiert zu sein. Ich begreife, daß die in Deutschland erscheinenden Zeitungen dem Volke auch nicht sagen dürfen, worin seine Regierung vor diesem Kriege und während des Krieges so schwer gesündigt hat. Aber die deutschen Blätter der Schweiz, wenn sie es gut meinen mit der Zukunft des deutschen Volkes, sollten aufklärend wirken, besonders indem sie
wirkliche Geschichte schreiben. Je weniger man in Deutschland darauf besteht, seine eigene Regierung zu entschuldigen, desto eher wird es für uns Belgier und für unsere mächtigeren Verbündeten möglich sein, dem deutschen Volk zu verzeihen. Ich habe lange genug in Deutschland gelebt, um zu wissen, daß diese wissenschaftlich so begabte Nation politisch noch sehr geknechtet ist. Alle Nichtdeutschen wissen und sehen dies. Nur der Deutsche selbst lebt beständig in seiner staatlichen Kinderstube, in steter Furcht vor der Zuchtrute seiner Vormünder. Das Kapitel „Belgien“ in der Geschichte des 20. Jahrhunderts wird, hoffe ich, auch das deutsche Volk belehren, daß sogar eine kleine Nation die Freiheit über alles liebt."
 


 

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