![]() |
Zwangsarbeiter aus Belgien - 13 |
![]() |
Deutschland und Belgien
von Dr. W. Muehlon.
(Nr. 36, 4. Mai 1918)
Quelle: Almanach der Freien Zeitung, S. 33 - 37, Bern 1918
http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht/?PPN=PPN769653731
"Die Vergewaltigung Belgiens war ebenso wie die Hollands zwar oft vor dem Kriege
als Eventualität
erörtert worden, jedoch war es ein militärisches Geheimnis geblieben, daß für
den Fall eines gleichzeitigen Krieges gegen Rußland und Frankreich der deutsche
Plan definitiv feststand, Frankreich auf die schnellste Weise und mit allen
Kräften niederzuwerfen, bevor das langsame Rußland schlagbereit sei, und deshalb
unter allen Umständen den Durchmarsch durch Belgien zu fordern.
Nachdem der Reichskanzler die dem militärischen Gebot entsprechenden Schritte
getan hatte und nachdem er schon wußte, daß Belgien sich zur Wehr setze, trat er
vor den Reichstag und entschuldigte sich: Not kenne kein Gebot. Belgien werde
wiederhergestellt und entschädigt werden. Seine Rede zeigte klar, daß Belgien
ohne eigenes Verschulden, lediglich aus deutschen strategischen Erwägungen
mißhandelt werde. Wenn seine Rechtfertigung auch nicht die Notwendigkeit, gerade
diesen Feldzugsplan zu wählen, enthüllte, sondern vielmehr die schrankenlose
Brutalität der Pläneschmiede, so war doch sein Eingeständnis der Schuldlosigkeit
Belgiens sein größter Augenblick im Kriege.
Das will im heutigen Deutschland etwa so viel heißen, als daß dieses
Eingeständnis seine größte und unverzeihlichste Ungeschicklichkeit war, die
gutgemaoht werden mußte. Es dauerte auch nicht lange, so fingen die bekannten
Verdächtigungen der belgischen Neutralität an, die für denkende Menschen zur
Genüge widerlegt sind. Belgien sollte eben — besten Falles für dieses Land — ein
Handels-Objekt beim Friedensschlusse werden. Inzwischen hat der Krieg so lange
gedauert und die Deutschen haben ihre Fänge so tief in das unglückliche Land
eingeschlagen, daß man nur mit Schauder daran denken kann, was sie einmal davon
zurücklassen.
Immerhin, kein Reichskanzler hat das Wort vom 4. August 1914 zurückgenommen, nur
vor einer klaren Wiederholung hat man sich gescheut.
Ich habe selbst in Deutschland zwar manchen kompetenten Mann gesprochen, aber
niemals einen, der mir gegenüber auch nur versucht hätte, mit irgend einem Wort
eine Schuld Belgiens anzudeuten. Trotzdem ließ man und läßt man Tausende von
Handlangern immer neue Anschuldigungen verbreiten, die jene Erklärung des
Reichskanzlers vergessen machen und das deutsche Volk gegenüber Belgien hart
machen sollen.
Das deutsche Volk, das ohnehin seine Führer wenig mit Fragen nach Wahrheit und
Gerechtigkeit im Kriege beunruhigt, das vor allem das unvermeidliche Elend auf
andere abwälzen möchte und von seinen Führern in der Hauptsache nur verlangt,
daß sie keinen materiellen Mißerfolg haben! Das deutsche Volk, das ohnehin — mag
der Reichskanzler gesagt haben was nur immer — gewissermaßen glauben will, die
Belgier hätten den Ueberfall verdient und keine Bereicherung seines alten
Märchenschatzes über Belgien (die Franzosen waren zuerst in Belgien — die
Engländer wären doch nach Belgien gekommen — die Belgier hätten sich
anständigerweise nicht wehren dürfen etc.) braucht.
Da mag es denn nicht unnütz sein, wenn ich an meinem bescheidenen Teile etwas
zur Steuer der Wahrheit beitrage. Was ich jedem Bekannten mündlich gesagt habe,
wirkt vielleicht mehr, wenn ich es den Unbekannten öffentlich unterbreite. Und
wenn es nichts nützt, so sei es wenigstens ein Trost für die Freunde der
Wahrheit und für die Belgier im besonderen. Jedenfalls haben meine Angaben den
Vorteil, daß sie bei einigem guten Willen nachgeprüft werden können und daß man
in Deutschland Tausende von Zeugen und reichliche schriftliche Belege finden
kann.
Belgien hatte vor dem Kriege bei der Firma Krupp in Essen vier große, moderne
Geschütze (28 Zentimeter) für die Befestigung von Antwerpen bestellt. Die
Geschütze waren Anfang 1914 fertig, abgenommen und völlig bezahlt und
versandbereit, aber die Arbeiten an der Befestigung von Antwerpen waren noch
nicht soweit fortgeschritten, daß die Geschütze aufgestellt werden konnten. Man
erinnert sich vielleicht der belgischen Kammerdebatten über diesen Gegenstand.
Nun richtete die belgische Regierung an Krupp das Ersuchen, die Geschütze
einstweilen selbst noch aufzubewahren. Krupp willfahrte, aber ungern. Eine
solche Aufbewahrung kommt selten vor und hat mancherlei Unannehmlichkeiten.
Krupp tat wiederholte mündliche und schriftliche Schritte, um die Geschütze
loszubekommen, die belgische Regierung erneuerte stets ihr Ersuchen um die
Gefälligkeit der Aufbewahrung und war sogar bereit, eine Entschädigung dafür zu
zahlen. Es wurde immer wieder ein modus vivendi gefunden, der beiderseitige
Standpunkt blieb unverändert, bis der Krieg ausbrach und das preußische
Kriegsministerium diese Geschütze sofort als Beute (Wert vier
Millionen) in Essen beschlagnahmte.
Daraus folgere ich: Hätte die belgische Regierung irgendwelche bösen Absichten
gegen Deutschland gehabt, oder sich eines deutschen Ueberfalls versehen, so
würde sie, spätestens als der Krieg drohte, ihre kostbaren Geschütze an sich
genommen haben, statt darauf zu beharren, daß sie Krupp anvertraut blieben.
Aber ich bin nicht auf dieses eine Beispiel angewiesen. Belgien unterhielt seit
langem rege Verbindungen mit Deutschland hinsichtlich seines Kriegsmaterials.
Soweit Krupp nicht selbst an die belgische Regierung lieferte, arbeitete die
belgische Firma Cockerill in Seraing und viele Staatswerkstätten in enger
Fühlung mit Krupp (nach seinen Konstruktionen, Patenten etc.; Kruppsche
Teillieferungen etc.).
Diese Beziehungen sind in allen Ländern ein ziemlich zuverlässiges Barometer
politischer Natur, was ich hier nicht weiter ausführen will. Es liegt auf der
Hand, daß ein Land um so mehr abhängig wird (nicht nur im Kriegsfall, aber
besonders in diesem) und um so schwerer sich umschalten läßt, je mehr es sich
auf eine bestimmte ausländische Lieferungsquelle für Kriegsmaterial eingerichtet
hat. Es lag für Belgien auch keinerlei technische Notwendigkeit vor, sich an
Krupp zu wenden, der z. B. Frankreich gegenüber in seinen Konstruktionen von
jeher weit unterlegen war und nur mühsam nachhinkte, wie jeder Fachmann, auch in
Deutschland, weiß. Krupps Qualitäten liegen auf einem ganz anderen Gebiet als
dem der besseren Konstruktionen und Erfindungen. Kurz, Belgiens Beziehungen zu
Krupp waren der Ausdruck eines freundschaftlichen Bestrebens gegenüber
Deutschland. Ich habe immer den Eindruck gehabt, daß Belgien das
geschäftegierige, empfindliche, scharf nachdrängende Deutschland durch
reichliche Aufträge bei guter Laune erhalten zu können glaubte, während es von
Frankreich, dessen Industrie wenig Regierungsunterstützung genoß und zudem
sorgloser war, Verständnis für die Gründe der Bevorzugung Deutschlands und
Begnügung mit den menschlichen Sympathien erwartete.
Wenige Monate nun vor dem Kriege knüpfte Belgien ein weiteres und besonders
wichtiges Band zwischen sich und Krupp. Es überließ sich hinsichtlich einer
neuen (kaum erprobten) Munition für Feldartillerie ganz dieser Firma. Krupp, der
sich bedeutende direkte Bestellungen zusicherte, übertrug die Berechtigung zur
Fabrikation dieser Munition anCockerill, unter Mitwirkung natürlich der
zuständigen Behörden, die sich für ihre eigenen Werkstätten das gleiche
sicherten. Das hieß für Cockerill und das belgische Kriegsministerium rege und
andauernde Zusammenarbeit mit Kruppschen Vertretern, Ingenieuren etc. und
entsprechende Abhängigkeit vom Lizenzgeber.
Ich hatte damals häufig den Besuch eines Cockerillschen Direktors, und halte es
nicht für überflüssig, zu betmerken, daß mir noch bei Kriegsausbruch ein
Schreiben von Cockerill vorlag, daß er eine Lizenzanzahlung von einer Million
Franken soeben überweise.
Man bedenke die enge Abhängigkeit des Kriegsmaterialgeschäftes von
Regierungsintentionen und beurteile dann auf Grund der hier erwähnten und
offenkundigen Vorgänge die „mala fides“ der belgischen Regierung gegenüber
Deutschland."
Johann Wilhelm
Muehlon (* 31. Oktober 1878 in Karlstadt; † 5. Februar 1944 in Klosters-Serneus
(Kanton Graubünden)) war ein deutscher Rüstungsindustrieller und Diplomat.
Muehlon studierte Rechtswissenschaft und Staatswissenschaften in München, Berlin
und Würzburg. 1904 wurde er zum Doktor der Rechtswissenschaften promoviert und
übte den Beruf des Anwalts aus. 1907 trat er in den auswärtigen Dienst.
1908 wurde er als Direktionsassistent zur Friedrich Krupp AG beurlaubt. Ab 1913
leitete er die Abteilung Kriegsmaterial. Ende 1914 schied er auf eigenen Wunsch
aus dem Unternehmen aus, die Tätigkeit dort war ihm „verhaßt“.
1915 wurde er vom Auswärtigen Amt beauftragt, als „Besonderer Kommissar der
Reichsverwaltung für die Balkanstaaten“ in Bukarest, Sofia, Wien und Budapest
über Getreide- und Erdöllieferungen zu verhandeln. Muehlon hatte den Posten des
Gesandten in Rumänien abgelehnt, ebenso weigerte er sich, im Oktober 1916 die
Friedensvorschläge von Wilhelm II. bei Ferdinand I. in Rumänien zu vertreten.
Muehlon vertrat parteipolitisch unabhängige, liberal-demokratische Ansichten. Er
lehnte die annexionistischen Kriegsziele von Wilhelm II. ab und sah in der
Politik von Woodrow Wilson ernsthafte Vermittlungsbemühungen.
Im Herbst 1916 ging er in die Schweiz ins Exil und arbeitete ohne Diplomatenpass
und Akkreditierung für die deutsche Gesandtschaft in Bern. Nach der Ankündigung
des uneingeschränkten U-Boot-Krieges brach Muehlon den Kontakt zu Behörden des
deutschen Reichs ab.......
Im Frühjahr 1918 veröffentlichte
Muehlon unter dem Titel Die Verheerung Europas in Zürich sein Tagebuch aus den
ersten Kriegsmonaten. Das Werk stand im Deutschen Reich auf dem Index und im
Ausland begründete es seinen Ruf als „der erste Europäer in Deutschland“.
Quelle und weitere Informationen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Wilhelm_Muehlon
![]() |
![]() |