Zwangsarbeiter aus Belgien - 14


Kardinal Mercier und sein Widerstand gegen die Deportationen 1

Korrespondenz zwischen Kardinal Mercier und den deutschen Kommandanten


 

Désiré-Félicien-François-Joseph Kardinal Mercier (* 21. November 1851 auf Château du Castegier bei Braine-l’Alleud, Belgien; † 23. Januar 1926 in Brüssel) wurde 1906 von Papst Pius X. zum Erzbischof von Mechelen (französisch Malines) ernannt. Er wurde auch Primas von Belgien.
1914 wurde Belgien von deutschen Truppen weitgehend besetzt. Während der König Albert I. vor der deutschen Besatzung im Ersten Weltkrieg ins Exil fliehen musste, organisierte Mercier Widerstand in Belgien. Moritz Freiherr von Bissing, Generalgouverneur in Belgien (1914–1917), verbot, dass Merciers Hirtenbrief zum Neujahrstag 1915 in den belgischen Kirchen verlesen wurde. Der Kardinal wehrte sich vehement gegen die Deportationen.

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/D%C3%A9sir%C3%A9-Joseph_Mercier

(Bild: Mercier 1914, wikimedia commons)


Im Folgenden Auszüge aus dem Briefwechsel Merciers mit dem Generalgouverneur von Belgien Moritz von Bissing u.a. Die Texte habe ich aus dem Englischen übersetzt. Die englischen Texte sind hier veröffentlicht: http://www.zum.de/psm/1wk/ww1/mercier9.php 

Brief Seiner Eminenz, Kardinal Mercier, an den Generalgouverneur von Bissing
Erzdiözese Malines
Malines, 19. Oktober 1916

Mein Herr,
am Tage nach der Kapitulation von Antwerpen fragten die verwirrten Menschen, was wohl mit den belgischen Bürgern geschehen würde, die im wehrfähigen Alter sind oder die ein solches Alter vor dem Ende der Besatzung erreichen werden. Im Hinblick auf die Bittgesuche, die ich von Vätern und Müttern erhielt, beschloss ich, den Gouverneur von Antwerpen, Baron von Huene, zu fragen, der so gut war, mich zu beruhigen und zu bevollmächtigen, die gramerfüllten Eltern zu beschwichtigen.
Dennoch breitete sich in Antwerpen das Gerücht aus, dass in Liege (Lüttich), Namur und Charleroi junge Männer ergriffen und mit Gewalt nach Deutschland transportiert worden sind.

Ich bat daher Gouverneur von Huene, mir freundlicherweise schriftlich seine mündliche Zusicherung, dass nichts dieser Art in Antwerpen geschehen werde, zu bestätigen. Er antwortete mir umgehend, dass die Gerüchte über Deportationen jeder Grundlage entbehrten, und schrieb mir einen Brief mit folgender Erklärung: "Junge Männer müssen keine Angst haben, nach Deutschland geschickt zu werden, weder um dort zur Armee eingezogen zu werden noch Zwangsarbeit leisten zu müssen".
Diese Erklärung, schriftlich und unterzeichnet, wurde öffentlich an die Geistlichkeit verbreitet und gewissenhaft über die Provinz Antwerpen, wovon sich Eure Exzellenz durch das beigefügte Dokument , datiert vom 16. Oktober 1914, welches in allen Kirchen verlesen wurde, vergewissern möge.

Als Ihr Vorgänger, der verstorbene Freiherr von der Goltz, in Brüssel ankam, hatte ich die Ehre, ihm aufzuwarten, und ich bat ihn freundlich, die Versprechen, die mir General von Huene für die Provinz Antwerpen gegeben hatte, für das ganze Land und ohne Zeitlimit zu ratifizieren. Der Generalgouverneur nahm meine Petition an sich, um sie in Ruhe zu prüfen. Am folgenden Tag war er so freundlich, persönlich nach Malines zu kommen und mir seine Zustimmung zu geben. Dort, in Gegenwart von zwei Aides-de-camp (persönliche Assistenten, Flügeladjutanten) und meines Privatsekretärs bestätigte er das Versprechen, dass die Freiheit belgischer Bürger respektiert werden würde. Die Autorität solcher Zusagen anzuzweifeln wäre eine Beleidigung für die Personen, die sie unterzeichnet hatten, und ich brachte daher meine ganze Überzeugungskraft, die ich besaß, auf, um die anhaltende Unruhe betroffener Familien zu zerstreuen.

Aber jetzt reißt Ihre Regierung Arbeiter weg aus ihren Häusern, die ohne ihr Verschulden in den Zustand 'Arbeitslosigkeit' herabgesetzt worden sind. Es ist brutal, sie von ihren Frauen und Kindern zu trennen und in ein fremdes Land zu deportieren. Eine große Zahl Arbeiter hat dieses traurige Schicksal schon ereilt; zahlreicher noch sind jene, die von der gleichen Gewalttat bedroht sind.

Im Namen der Freiheit des Wohnsitzes und der Freiheit der Arbeit; im Namen der Unverletzlichkeit des Familienlebens; im Namen der Moral, die durch die Politik der Abschiebung ernsthaft gefährdet würde; im Namen der Zusagen, die durch den Gouverneur von Antwerpen und den Generalgouverneur, der unmittelbaren Vertretung der höchsten Autorität im Deutschen Reich, gegeben worden sind, bitte ich Sie, Eure Exzellenz, respektvoll, die Maßnahmen der Zwangsarbeit und Deportation aufzuheben und diejenigen belgischen Arbeiter, die bereits deportiert worden sind, wieder in ihre Heimat zurückzuführen.

Eure Exzellenz werden zu schätzen wissen, wie schwer das Gewicht meiner Verantwortung gegenüber den Familien wäre, wenn das Vertrauen, welches diese  durch meine Intervention und auf meine Empfehlung in Sie gesetzt haben, kläglich hintergangen würde. Ich kann jedoch nicht glauben, dass derartiges der Fall sein wird.
Ihr sehr ergebener (unterzeichnet) D. J. Mercier
Erzbischof von Malines


Am selben Tag sandte Kardinal Mercier den folgenden Brief an Baron von der Lancken, den Leiter der politischen Abteilung in Brüssel und den wichtigsten deutschen Beamten nach dem Generalgouverneur, einschließlich einer Kopie des obigen an Baron von Bissing gerichteten Protests.

Brief Seiner Eminenz, Kardinal Mercier, an den Baron von der Lancken
Erzdiözese Malines
Malines, 16. Oktober 1916

Mein Herr,
Ich hatte die Ehre, seiner Exzellenz Baron von Bissing ein Schreiben zu senden, von dem ich eine Kopie beilege.
Wiederholt und sogar öffentlich hat der Generalgouverneur seine Absicht geäußert, einen großen Teil seiner Einsamkeit für die Interessen des besetzten Gebietes zu reservieren, und Sie selbst haben so oft den Wunsch der deutschen Behörden bestätigt, in der Zeit der Besetzung nicht den Kriegszustand aufrechtzuerhalten, den es während der ersten Zeit gab. Folglich kann ich nicht glauben, dass Sie die Maßnahmen, mit denen Ihre Regierung die belgischen Arbeiter, die ohne eigenes Verschulden in einen Zustand der "Arbeitslosigkeit" versetzt wurden, bedroht, ausführen werden.
Ich hoffe, dass Sie all Ihren Einfluß bei den höheren Behörden einsetzen werden, um ein solches Verbrechen zu verhindern.
Reden Sie nicht mit uns, ich bitte Sie, von der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, noch von der Belastung der öffentlichen Wohlfahrt. Ersparen Sie uns diese bittere Ironie. Sie sind sich sehr wohl bewusst, dass die öffentliche Ordnung nicht bedroht ist, und dass jeder moralische und bürgerliche Einfluss spontan mit Ihnen kooperieren würde, wenn die öffentliche Ordnung gefährdet wäre. Die "Arbeitslosen" sind keine Belastung für die öffentliche Wohlfahrt, und es sind nicht Ihre Finanzen, von denen sie Unterstützung erhalten.
Überlegen Sie, ob es sich nicht um das Interesse Deutschlands als auch um Ihr eigenes handelt, die durch zwei hohe Beamte Ihres Reiches unterzeichneten Versprechen zu respektieren.
Ich bin zuversichtlich, dass meine Petitionen an den Generalgouverneur und an Sie nicht falsch interpretiert oder missverstanden werden, und verbleibe
Hochachtungsvoll
(signiert) D. J. Kardinal Mercier
Erzbischof von Malines


Am 26. Oktober schickte Generalgouverneur von Bissing Kardinal Mercier einen Brief, der bei seiner Eminenz keinen Zweifel daran ließ, dass die deutschen Behörden beschlossen hatten, die Massendeportationen belgischer Staatsbürger fortzusetzen. Dieses Dokument wurde auf Deutsch und Französisch gesendet. Das Folgende ist eine Übersetzung des authentischen Französisch Textes.

General von Bissings Antwort an Kardinal Mercier
Brüssel, den 26. Oktober 1916

Eure Eminenz:
Zu Ihren Gunsten vom 19. Oktober hat Eure Eminenz gefordert, dass belgische "Arbeitslose" nicht nach Deutschland transportiert werden sollten. Während ich den Standpunkt Eurer Eminenz vollständig verstehe, halte ich es für meine Pflicht, zu antworten, dass Sie nicht alle Aspekte des sehr schwierigen Problems der "Arbeitslosigkeit" in Belgien berücksichtigt haben. Dies ist insbesondere der Fall in Bezug auf bestimmte ganz ungewöhnliche Umstände, die die ca. zwei Jahre dauernde Kriegsführung mit sich brachte und was Eure Eminenz nicht in seiner ganzen Tragweite bedacht haben. Die Maßnahmen, die Sie aufheben wollen, sind nur der Ausdruck einer gebietende Notwendigkeit und eine unvermeidliche Folge des Krieges. Darüber finden Sie eine Erläuterung weiter unten.
Eure Eminenz beginnen Ihren Brief durch Hinweis auf die Erklärungen, die von meinem Vorgänger und dem Militärgouverneur von Antwerpen im Oktober 1914 gegeben worden sind. Diese Erklärungen verwiesen auf Tatsachen, die verbunden mit den militärischen Operationen vorgenommen wurden. Sie bezogen sich auf Belgier, die unter Militärdienst gestellt waren und die in Übereinstimmung mit den allgemein anerkannten Gebräuchen der Kriegsführung nicht als Zivilgefangene nach Deutschland gebracht werden konnten. Zu dieser Zeit entfernten England und Frankreich von neutralen Schiffen auf hoher See alle Deutschen zwischen siebzehn und 50 Jahren und internierten sie in Konzentrationslagern. Deutschland hat nicht die gleiche Maßnahme in Belgien angewendet. Die Erklärungen, die Eurer Eminenz gegeben wurden, um Ihnen zu ermöglichen, die Bevölkerung zu beruhigen, wurden strikt eingehalten. In jedem Fall waren diese Erklärungen ein Beweis der guten Absichten, mit denen der deutsche Generalgouverneur die Verwaltung des besetzten Gebietes ausführte. Im Hinblick auf die heimliche Massenabwanderung junger Belgier, sich der belgischen Armee anzuschließen, wäre es für die deutschen Behörden völlig gerechtfertigt gewesen, dem Beispiel Englands und Frankreichs zu folgen. Sie haben nicht so gehandelt. Die Verwertung der belgischen "Arbeitslosen" in Deutschland, die erst nach zwei Jahren Kriegsführung eingeführt wurde, unterscheidet sich wesentlich davon, Männer im wehrfähigen Alter in Gefangenschaft zu nehmen. Die Maßnahme hat überhaupt nichts mit der Führung des Krieges im eigentlichen Sinne zu tun, sondern ist durch die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen veranlasst.

Die wirtschaftliche Lage Deutschlands - eine Politik, die England gnadenlos und mit größtem Nachdruck verfolgt - hat sich erweitert und drückt immer schwerer auf Belgien. Belgische Industrie und Handel, die weitgehend von der Einfuhr von Rohstoffen und Ausfuhr von Fertigwaren abhängig sind, wurden wesentlich beschädigt. Die unvermeidliche Folge war der Mangel an Arbeit für die Masse der Bevölkerung. Das System der Vergabe von Subventionen, die in großem Umfang den "Arbeitslosen" gewährt wurden, könnte im Falle eines Krieges von kurzer Dauer akzeptabel sein. Die lange Dauer des Krieges begünstigte einen Missbrauch dieser Subventionen und führte Verhältnissen ein, die unerträglich vom sozialen Standpunkt aus sind. Bereits im Frühjahr 1915 traten weitsichtige Belgier an mich heran und wiesen auf die Risiken der Situation hin. Sie betonten die Tatsache, dass, egal, wer gegenwärtig die finanziellen Mittel zur Verfügung stelle, die Zuschüsse letztlich zu einer Belastung für die Ressourcen Belgiens würden. Sie wiesen ferner darauf hin, dass die Zuschüsse die Arbeiter ermunterten, sich dem Müßiggang hinzugeben und sich daran zu gewöhnen. Die unvermeidliche Folge der Verlängerung der "Arbeitslosigkeit" wäre das moralische und physische Verderben der Arbeiter. Facharbeiter vor allem würden ihre technischen Fähigkeiten für ihren Beruf verlieren in kommenden Zeiten des Friedens nutzlos für die Industrie werden. In Übereinstimmung mit diesen Darstellungen und in Zusammenarbeit mit dem zuständigen belgischen Amt, waren meine Anordnungen vom August 1915 gegen vorsätzliche "Arbeitslosigkeit" verbunden. Diese Anordnungen wurden durch die Verordnung vom 1. Mai 1916 vervollständigt, und Zwang war nur vorgesehen, wenn ein Arbeiter sich weigert, ohne triftigen Grund eine gemäß seinen Fähigkeiten und korrekter Bezahlung geeignete Arbeit anzunehmen und so der öffentlichen Wohlfahrt zur Last fällt. Jede Ablehnung auf der Grundlage des Völkerrechts wird ausdrücklich als gültig anerkannt. Folglich kann kein Arbeiter gezwungen werden, an Arbeiten teilzunehmen, die mit dem Krieg verbunden sind. Eure Eminenz wird erkennen, dass diese Anordnungen auf soliden Prinzipien der Gesetzgebung beruhen, die, das ist wahr, allgemeine Interessen über die individuelle Freiheit setzt. Nachdem die sozialen Wunden, die im Jahre 1915 auftraten, sich zu einer öffentlichen Katastrophe entwickelten, ist es nun unsere Aufgabe, die Anordnungen wirksam in Frage zu stellen.

Eure Eminenz berufen sich auf das hohe Ideal der familiären Tugenden in Eurem Brief. Mir sei erlaubt zu antworten, dass ich zum Beispiel wie Sie dieses Ideal sehr hoch schätze, aber aus diesem Grund muss ich auch erklären, dass die Arbeiterklasse in größter Gefahr ist, die Sicht auf alle Ideale zu verlieren, wenn wir einen Zustand tolerierten, der unweigerlich schlimmer würde. Müßiggang ist der schlimmste Feind des Familienlebens. Männer, die für ihre Familien in einer Entfernung von ihrer Heimat arbeiten - eine Bedingung, die immer unter den belgischen Arbeitern bestanden hat - tragen zweifellos mehr zum Wohl ihrer Familien bei als "Arbeitslose", die zu Hause bleiben. Männer, die in Deutschland Arbeit aufnehmen, können die Beziehungen zu ihren Familien erhalten. In regelmäßigen Abständen werden sie beurlaubt, um in ihre Heimat zurückzukehren. Sie können ihre Familien nach Deutschland bringen, wo sie auch Priester finden werden, die ihre Sprache kennen.

Mit ihrer einfachen gesunden Menschenverstand hat eine große Anzahl der Bevölkerung bereits diese Tatsache erkannt, und Zehntausende von belgischen Arbeitern sind freiwillig nach Deutschland gegangen. Dort verdienen sie auf einer Ebene mit deutschen Arbeitern hohe Löhne, die sie noch nie in Belgien gekannt haben. Statt in Elend zu versinken, wie ihre Kameraden, die zu Hause geblieben sind, werden sie den eigenen Zustand und den ihrer Familien verbessern. Eine große Anzahl anderer möchte gerne ihrem Beispiel folgen, aber sie wagen es nicht zu tun, weil systematische Einflüsse sie zögern lassen. Wenn sie sich von diesen Einflüssen nicht innerhalb einer angemessenen Frist befreien, müssen sie sich dem Zwang unterwerfen. Die Verantwortung dafür, was auch immer an rigorosen Maßnahmen dann stattfindet, fällt auf diejenigen, die sie an der Arbeitsaufnahme gehindert haben. Um Eminenz zu ermöglichen, die Situation in ihrer Gesamtheit zu beurteilen, bitte ich Sie, die folgenden Erklärungen, die das Wesentliche des Problems sind, zu berücksichtigen:

Die von England angenommen Isolationspolitik hat notwendigerweise zur Schaffung einer Gemeinschaft von wirtschaftlichen Interessen zwischen den besetzten Gebieten und Deutschland geführt, und Deutschland ist praktisch das einzige Land, mit dem Belgien Handelsbeziehungen haben kann. Obwohl es übliche Praxis zwischen feindlichen Länder ist, hat sich Deutschland nicht geweigert, Zahlungen in Belgien zu leisten, und somit kommt immer deutsches Geld ins Land. Die Löhne der Belgier, die in Deutschland arbeiten, verstärken diesen Geldfluss weiterhin. Zudem führt die Besatzung an sich zu konstanten Geldbewegungen nach Belgien, und dazu muss die Kriegssteuer hinzugefügt werden, die, in Übereinstimmung mit allgemein bekannten und anerkannten Prinzipien, ausschließlich im Land ausgegeben wird. Die Gemeinsamkeit der Interessen, resultierend aus den bestehenden Bedingungen und durch die Logik der Dinge, zwingt beide Parteien zur Notwendigkeit des Austauschs und der Wahrung eines angemessenen Gleichgewichts zwischen den Elementen des Wirtschaftslebens. Während Hunderttausende von Arbeitern in Belgien untätig sind und in Deutschland Arbeitskräftemangel herrscht, ergibt sich sowohl eine soziale und wirtschaftliche Pflicht, die belgischen "Arbeitslosen" mit produktiver Arbeit in Deutschland zu beschäftigen. Dies wird durch die Gemeinschaft der Interessen erforderlich. Wenn irgendein Einwand zu diesem Zustand der Dinge unterbreitet wird, sollte er an England gerichtet werden, das dieses Elend durch seine Isolationspolitik geschaffen hat. Eure Eminenz ersehen aus dem Vorhergehenden, dass das Problem sehr komplex ist. Ich würde eine tiefe Befriedigung empfinden, wenn Sie nach meiner Erklärung das Problem vom sozialen und ökonomischen Standpunkt prüfen würden.

Mit größter Hochachtung
(signiert) Frh. von Bissing
General Leutnant

Seine Eminenz, Kardinal Mercier
Erzbischof von Malines, Malines


Das obige Schreiben zeigte deutlich, dass die deutschen Behörden nicht die Absicht hatten, den berechtigten Beschwerden des belgischen Volkes zuzustimmen. Die Deportationen liefen weiter mit der erbarmungslosen Regelmäßigkeit, die gleichzeitig die härtesten Maßnahmen der Berliner Regierung charakterisierte, als ob die Leiden und Beschwerden von Zehntausenden von Männern, Frauen und unschuldigen Kindern nichts galt bei der Besatzungsmacht. Der einzige Ausweg der belgischen Bischöfe war, die öffentliche Meinung gegen die schikanösen Maßnahmen der Eindringlinge zu lenken. Daher veröffentlichten am 7. November die belgischen Bischöfe einen Aufruf an die öffentliche Meinung.

Aufruf der belgischen Bischöfe an die öffentliche Meinung
Malines, 7. November 1916

Die Militärbehörden deportieren täglich Tausende von harmlosen Bürgern aus Belgien nach Deutschland und kommandieren sie dort zur Zwangsarbeit ab.
Am 19. Oktober schickten wir dem Generalgouverneur in Brüssel einen Protest, von denen Kopien an die Vertreter des Heiligen Stuhls, Spanien, den USA und Holland geschickt wurden. Der Generalgouverneur antwortete, dass es unmöglich wäre, unsere Petition zu bewilligen. Zum Zeitpunkt unseres Protestes bedrohten die Verfügungen der Besatzungsmacht nur die "Arbeitslosen". Heute werden alle diensttauglichen Männer willkürlich weggeführt, in Waggons zusammengepfercht und deportiert, niemand weiß wohin, wie eine Schar von Sklaven. Das Vorgehen des Feindes verläuft nach Bezirken. Ein vages Gerücht kam uns zu Ohren, dass Verhaftungen stattfanden in den Bahnhöfen (Depots) von Tournai, Gent und Alost, wir wussten aber nicht unter welchen Bedingungen. Zwischen dem 24. Oktober und 2. November war der Feind in der Region Mobs, Quievrain, Saint-Ghislain, und Jemappes aktiv, Gruppen von 800 bis 1200 Menschen werden täglich festgenommen.
Morgen und an den folgenden Tagen wird der Bezirk Nivelles heimgesucht werden. Hier ist eine Kopie der Bekanntmachung der Freveltat:

"Auf Befehl des Kreischefs werden alle Personen männlichen Geschlechts über 17 Jahren aufgefordert, am 8. November 1916 um acht Uhr (HB), neun Uhr (HC) auf dem Place St. Paul, Nivelles, anwesend zu sein, mitzubringen sind ihre Ausweiskarten und auch (wenn sie sie zu besitzen) ihre Meldeamt-Karten.
Nur kleines Handgepäck darf mitgebracht werden.
Jeder, der nicht selbst anwesend ist, wird zwangsweise nach Deutschland deportiert und wird haftbar gemacht mit einer hohen Geldstrafe und langer Haft.
Geistliche, Ärzte, Anwälte und Lehrer sind nicht verpflichtet zu erscheinen.
Die Bürgermeister werden für die ordnungsgemäße Durchführung dieses Befehls, der sofort den Bewohnern zur Kenntnis gebracht werden muss, verantwortlich gemacht."

Es gibt ein Intervall von 24 Stunden zwischen der Veröffentlichung der Bekanntmachung und der Deportation. Unter dem Vorwand, bestimmte öffentliche Arbeiten müssten auf belgischem Boden ausgeführt werden, hatte die Besatzungsmacht sich bemüht, von den Gemeinden Listen "arbeitsloser" Arbeiter zu erhalten. Die meisten Gemeinden weigerten sich mit Stolz, diese Informationen zu liefern.
Drei Befehle des Generalgouverneurs wurden ausgegeben, um den Weg für den Schlag, der uns heute trifft, vorzubereiten.
Am 15. August 1915 führte der erste Befehl Pflichtarbeit für alle "Arbeitslosen" unter Androhung einer Geld- und Freiheitsstrafe ein, aber es wurde erklärt, dass diese nur für Arbeiten in Belgien angestellt und dass Verstöße gegen das Dekret durch belgische Gerichte verhandelt würden.
Ein zweiter Befehl vom 2. Mai 1916 gab den deutschen Behörden das Recht, Arbeiten für die "Arbeitslosen", und drohte mit eine Strafe von drei Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von 20.000 Mark für jede Person, die Arbeiten ausführten, die nicht durch den Generalgouverneur zugelassen sind. Mit dem gleichen Befehl wird die Zuständigkeit für Verstöße von den Belgischen den deutschen Gerichten übertragen.
Ein dritter Befehl vom 13. Mai 1916 "ermächtigt die Gouverneure, militärische Befehlshaber und Distriktchefs, anzuordnen, "Arbeitslose" mit Gewalt zu den Stellen zu führen, an denen sie arbeiten sollten." Das war wahrhaftig Zwangsarbeit, allerdings immer auf belgischem Gebiet.

Heute gibt es keine Zwangsarbeit mehr in Belgien, sondern in Deutschland und zum Wohle der Deutschen. Und um nach außen hin den Anschein von Plausibilität der Gewaltmaßnahmen zu geben, zitiert die Besatzungsmacht die beiden folgenden Scheingründe in der deutschen Presse von Deutschland und Belgien: "Die 'Arbeitslosen' sind eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung und ein Kostenfaktor für die offizielle Wohlfahrt."
Diese Behauptungen wurden in dem Schreiben, das wir an den Generalgouverneur und den Chef seiner politischen Abteilung am 19. Oktober geschickt hatten, beantwortet:
"Sie sind sich sehr wohl bewusst, dass die öffentliche Ordnung nicht bedroht ist, und dass jeder moralische und bürgerliche Einfluss spontan mit Ihnen kooperieren würde, wenn die öffentliche Ordnung gefährdet wäre. Die "Arbeitslosen" sind keine Belastung für die öffentliche Wohlfahrt, und es sind nicht Ihre Finanzen, von denen sie Unterstützung erhalten."
In seiner Antwort beruft sich der Generalgouverneur nicht mehr auf diese beiden Bedenken, aber er behauptet, dass die Zuschüsse an die "Arbeitslosen", aus welcher Quelle sie auch immer gegenwärtig stammten, letztendlich eine Belastung für unsere Finanzen sein müssten,  und dass es die Aufgabe eines guten Administrators sei, sie um diese Gebühren zu entlasten. Er fügte hinzu, dass "die Verlängerung der "Arbeitslosigkeit" unseren Arbeitern ihre technischen Eignung entziehen würde und dass sie für die kommenden Zeiten des Friedens nutzlos für die Industrie seien."

Es gab, das ist wahr, andere Mittel, um unsere Finanzen zu sichern - beispielsweise uns Kriegsabgaben zu ersparen, die bereits mehr als tausend Millionen erreicht haben und bis zu vierzig Millionen pro Monat ansteigen; uns mit Abgaben in Naturalien zu verschonen, die bereits einige tausend Millionen betragen und unser Land auspumpen.
Es gab andere verfügbare Mittel für die Erhaltung der Kompetenz unserer geschulten Arbeiter - zum Beispiel, indem man der belgischen Industrie ihre Maschinen und Zubehör lässt, deren Rohstoffe und die hergestellten Produkte, die aus Belgien nach Deutschland geschickt worden sind. Weder in den Steinbrüchen noch an den Kalköfen, wohin die Deutschen erklärtermaßen unsere "Arbeitslosen" schicken wollen, werden unsere Spezialisten ihre professionelle Ausbildung vervollkommnen. Die nackte Wahrheit ist, dass jeder deportierte Arbeiter einen Soldaten mehr für die deutschen Armee bedeutet, denn er wird den Platz von einem deutschen Arbeiter, der zu einem Soldaten gemacht wird, einnehmen.

Folglich kann die Situation, die wir der zivilisierten Welt gegenüber anprangern, reduziert werden auf diese Bedingungen: Vierhunderttausend Arbeiter wurden ohne eigenes Verschulden und vor allem wegen der deutschen Besatzung auf 'Arbeitslosigkeit' reduziert. Söhne, Ehemänner und Väter tragen ihr unglückliches Schicksal ohne Murren und respektieren die öffentliche Ordnung. Die Versorgung für ihre dringendsten Bedürfnisse wurden dank unserer nationalen Solidarität sichergestellt. Durch Sparsamkeit und großzügige Selbstverleugnung werden sie vor extremem Elend bewahrt und warten mit Würde auf das Ende unserer gemeinsamen Prüfung, sicher in der Vertraulichkeit, gefördert vom nationalen Kummer.

Kolonnen von Soldaten dringen in diese friedlichen Haushalte und reißen die jungen Männer von ihren Eltern, den Ehemann von seiner Frau, den Vater von seinen Kindern. Mit der Spitze ihrer Bajonette, verhindern die Soldaten, dass Ehefrauen und Mütter sich in die Arme der Abreisenden werfen, um ihnen ein letztes Lebewohl zu sagen. Die Gefangenen werden in Gruppen zu vierzig oder fünfzig in Reihen aufgestellt und zwangsweise in Eisenbahnwaggons gehievt. Die Lokomotive steht unter Dampf, und sobald der Zug gefüllt ist, gibt ein Offizier das Signal zur Abfahrt. Weitere tausend Belgier sind zur Sklaverei erniedrigt worden, und sind, ohne ein vorheriges Verfahren, mit der schwersten Strafe im Strafgesetz außer der Todesstrafe verurteilt worden - Deportation. Sie wissen weder, wohin sie gehen, noch wie lange ihre Abwesenheit dauern wird. Alles was sie wissen ist, dass ihre Arbeit nur dem Feind nützen wird. In mehreren Fällen ist von den Deportierten durch Bestechung oder Drohungen ein Vertrag, den die Deutschen es wagen, "freiwillig" zu nennen, erpresst worden.

Während die "Arbeitslosen" in der Tat registriert sind, wurde darüber hinaus eine große Anzahl von anderen, die nie arbeitslos gewesen sind und den verschiedensten Berufen angehörten, ebenfalls rekrutiert. Die letztere Kategorie, die insgesamt fünfundzwanzig Prozent im Bezirk Mons bildete, umfasst Metzger, Bäcker, Schneidermeister, Metallarbeiter, Elektriker und Bauern. Auch sehr junge Männer wurden mitgenommen - Studenten von Oberschulen, Universitäten und anderen Hochschulen.
Und doch haben uns zwei hohe Beamte des Deutschen Reiches ausdrücklich die Freiheit unserer Mitbürger garantiert.
Am Tage nach der Kapitulation von Antwerpen fragten die verwirrten Menschen, was wohl mit den belgischen Bürgern geschehen würde, die im wehrfähigen Alter sind oder die ein solches Alter vor dem Ende der Besatzung erreichen werden. Baron von Huene, Militärgouverneur von Antwerpen, berechtigte mich dann dazu, die besorgten Eltern in seinem Namen zu beruhigen. Als dennoch in Antwerpen gemunkelt wurde, dass junge Männer in Lüttich, Namur und Charleroi ergriffen und nach Deutschland deportiert wurden, bat ich von Huene, die Garantien, die er mir mündlich gegeben hatte, schriftlich zu bestätigen. Er antwortete, dass die Gerüchte über Deportationen grundlos wären, und gab mir ohne Zögern die schriftliche Erklärung, die in allen Kirchen der Provinz Antwerpen am Sonntag, dem 15. Oktober 1914 zu lesen war: "Junge Männer brauchen keine Angst zu haben, nach Deutschland geschickt zu werden, um in der Armee dort eingeschrieben oder zur Zwangsarbeit eingesetzt zu werden."
Bei der Ankunft der Freiherrn von der Goltz in Brüssel, in der Eigenschaft als Generalgouverneur, ging ich hin und bat ihn, die Versprechen ohne Beschränkung der Zeit für das ganze Land zu ratifizieren, die bereits von Gouverneur von Huene für die Provinz Antwerpen gemacht wurden. Der Generalgouverneur behielt meine Petition, um sie in Ruhe zu untersuchen. Am folgenden Tag kam er selbst nach Malines und überbrachte seine Zustimmung, und in Anwesenheit von zwei Aides-de-camp (persönliche Assistenten, Flügeladjutanten) und meines Privatsekretärs bestätigte er das Versprechen, dass die Freiheit der belgischen Bürger respektiert werden würde.
Mein Schreiben vom 19. Oktober zuletzt an Baron von Bissing, schloss ich, ihn an die Zusagen seines Vorgängers erinnernd: "Eure Exzellenz werden zu schätzen wissen, wie schwer das Gewicht meiner Verantwortung gegenüber den Familien wäre, wenn das Vertrauen, welches diese durch meine Intervention und auf meine Empfehlung in Sie gesetzt haben, kläglich hintergangen würde."

Der Generalgouverneur antwortete: "Die Verwertung der belgischen "Arbeitslosen" in Deutschland, die erst nach zwei Jahren Kriegsführung eingeführt wurde, unterscheidet sich wesentlich davon, Männer im wehrfähigen Alter in Gefangenschaft zu nehmen. Die Maßnahme hat überhaupt nichts mit der Führung des Krieges im eigentlichen Sinne zu tun, sondern ist durch die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen veranlasst."
Als ob das Word eines ehrlichen Mannes nach einem oder zwei Jahren annulliert werden könnte wie ein Mietvertrag eines Offiziers! Als ob die 1914 bestätigte Erklärung nicht ausdrücklich Militäroperationen und Zwangsarbeit ausschlössen! Als ob nicht genau jeder Belgische Arbeiter, der den Platz eines Deutschen einnimmt, es letztlich ermöglicht, eine Lücke in der Deutschen Armee zu füllen!
Wir Hirten dieser Herden, die von uns mit brutaler Gewalt gerissen werden, sind erfüllt mit Schmerz bei dem Gedanken an die Moral und die religiöse Isolation, in der unsere Herden dahinsiechen werden.
Als ohnmächtige Zeugen der Trauer und des Terrors so vieler zerstörter und bedrohter Haushalte appellieren wir an die Gläubigen und Nichtgläubigen gleichermaßen - bei unseren Alliierten, in neutralen Ländern und sogar bei unseren Feinden - eine Achtung der Menschenwürde beizubehalten.
Als Kardinal Lavigerie seine Kampagne gegen die Sklaverei durchführte, sagte Papst Leo XIII, während er seine Mission segnete: "Die Stellungnahme ist mehr denn je Königin der Welt; Du solltest durch sie wirken. Durch die öffentliche Meinung allein wirst Du den Sieg erlangen."
Möge die göttliche Vorsehung gnädig alle, die Autorität besitzen, inspirieren, mit Wort oder Stift sich geschlossen um unsere bescheidene belgische Flagge scharen für die Abschaffung der europäischen Sklaverei!
Möge das Gewissen des Menschen triumphieren über alle Sophismen und unabänderlich bleiben getreu der Maxime des großen St. Ambrosius: Ehre über alles! Nihil preferendum honestati!
Im Namen der belgischen Bischöfe (wir konnten keine Verbindung mit dem Bischof von Brügge bekommen),
(signiert) D. J. Card. Mercier
Erzbischof von Malines


 

Inhalt Lager