Zwangsarbeiter aus Belgien - 3


Zwangsdeportationen und Meschede


Aus: Jens Thiel: "Etwaige völkerrechtliche Bedenken dürfen uns nicht hindern."
Zwangsarbeit und Deportation in Belgien während des Ersten Weltkrieges
(aus: Timm C. Richter (Hg.): Krieg und Verbrechen, München 2006, S. 27-28):


"......... Die Deportationen aus dem Generalgouvernement Belgien fanden zwischen Oktober 1916 und Februar 1917 statt. Dabei wurden mehr als 60.000 Belgier zur Zwangsarbeit nach Deutschland und etwa ebenso viele in das unter direkter militärischer Verwaltung stehende Operations- und Etappengebiet deportiert. Bei den Deportationen gingen die eingesetzten Militär-, Militärpolizei- und Landsturmeinheiten oft mit großer Brutalität vor; der Abtransport erfolgte in der Regel in ungeheizten Viehwaggons. Die nach Deutschland deportierten Belgier kamen zunächst in "Verteilungsstellen" genannte separate Bereiche von Kriegsgefangenenlagern, nachdem vor allem das Auswärtige Amt darauf gedrängt hatte, die Bezeichnung „Konzentrationslager“ für solche Lager nicht mehr offiziell zu verwenden. Von dort sollten die Arbeiter an deutsche Unternehmen vermittelt werden, doch verweigerte ein Großteil der Belgier die Arbeitsaufnahme für den Feind.
Die Arbeits- und Lebensbedingungen in den Lagern und an den meisten Arbeitsstellen waren miserabel. Die unzureichende Ernährung, Krankheiten und Kälte führten zu einer überdurchschnittlich hohen Sterblichkeitsrate unter den Deportierten. Insgesamt starben in den Lagern mehr als 2.600 belgische Zwangsarbeiter. Zumindest in Deutschland erwiesen sich die Deportationen als ein kriegswirtschaftliches Fiasko. Da der ökonomische Effekt ausblieb, wurden die Deportationen für das Gebiet des Generalgouvernements im Februar 1917 eingestellt, die Deportierten bis zum Sommer 1917 zurück nach Belgien gebracht. Dort bestimmte in der Folgezeit die Anwerbung wieder die Arbeitskräftepolitik, nun aber mittels eines erheblich verbesserten Anreizsystems. ...." (S. 27 - 28)

 

 

Die Deportationen verstärkten den Widerstand gegen die deutschen Besatzer, vor außen gab es starke Proteste gegen die Verletzung des Völkerrechts. Vor allem in den USA wuchs das negative Bild der Deutschen. Es gab aber auch Kritik in Deutschland selber. Unter diesem Druck wurden die Deportationen aus dem Generalgouvernement im März 1917 ausgesetzt.

 


In seinem Buch "Opgeëiste en Weggevoerde Werkkrachten uit Boutersem tijdens de Eerste Wereldoorlog" (Boutersem Nov. 2014) beschreibt Edward 'Chille' Michiels die Deportationen anhand der Gemeinde Groß-Boutersem in Flandern (Ortsteile Boutersem, Kerkom, Neervelp, Roosbeek, Vertrijk und Willebringen). Boutersem liegt ca. 10 km südöstlich von Leuven (Löwen) und ca. 30 km östlich von Brüssel und hat heute 7691 Einwohner. Von Boutersem nach Meschede sind es etwa 320 km.

Von den damals (1916/17) ca. 5264 Bewohnern wurden 184 Männer (der Jüngste war 17 Jahre alt) zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert. Alle kamen zunächst in das Lager Meschede. Von dort wurden sie an Arbeitsstellen bis nach Süddeutschland geschickt. Was das für die einzelnen Familien bedeutete, aus denen der einzige 'Verdiener' herausgezogen wurde, kann man sich leicht vorstellen.

'Souvenir de Meschede 1916 - 1917'

Bildquelle: Michiels S. 74


Auszüge aus dem Buch von E. Ch. Michiels (Übersetzung: H.-P. Grumpe):

"....Die meisten dieser jungen Menschen aus ländlichen Gebieten waren selten oder nie außerhalb ihres Dorfes gewesen und hatten wohl noch nie in einem Zug gesessen, geschweige denn eine lange Reise ins Ausland gemacht. Sie wurden als Verbannte auf "unbestimmte Dauer" von allem entfernt, das sie hatten, von ihren Eltern, Brüdern und Schwestern, ihren Frauen und Kindern, ihren Geliebten, ihrem Dorf und ihrer Heimat! Viele Frauen und Mütter standen plötzlich - und zum ersten Mal - ohne Einkommen da, nur um den Grundbedürfnissen ihrer Familien gerecht zu werden - für wie lange wusste niemand ...!" (S. 50)

"....In den Annalen unserer lokalen Geschichte kann man immer noch hier und da Verweise auf die Deportationen aus dem Ersten Weltkrieg finden, der Wortlaut gibt ein klares Bild: '...Erinnert ihr euch noch an den traurigen Wintertag am 21. November 1916, als unsere Männer verpflichtet wurden, sich nach Tienen zu begeben und sich untersuchen zu lassen wie auf einem Sklavenmarkt? Und diese Henker wagten uns, die Gemeindeverwaltung, zu kritisieren, dass wir nicht bereitwillig unsere Männer abgeliefert hätten! Oh! Diese unmenschliche Schurken! Solche Akte der Barbarei hat fast die ganze Welt empört gegen sie aufgebracht!
Ehre und Bewunderung für die 18 tapferen Jungs aus unserer Mitte, die ferne drüben in Deutschland hartnäckigen Widerstand geleistet haben, indem sie trotz grausamster Bedrohungen und Erschöpfung vereinbart hatten, so wenig wie möglich für den Feind zu arbeiten.' .. (Auszug aus der Rede von Karel Martens, Bürgermeister von Kerkom, am 12. Oktober 1919)" (S. 50)
 

"....Deportierte" aus 25 Gemeinden des Landkreises Löwen, die durch die Besatzer verpflichtet wurden, Zwangsarbeit in Deutschland zu leisten, verließen zusammen am 20. und 21. November 1916 die Stadt Tienen mit dem Zug in Richtung Deutschland. Alle diese Deportierten kamen zunächst in das Lager von Meschede. .......
Am 20. Oktober riefen die Besatzer die Namen der Arbeitslosen in Tienen auf. Aber diese Zivilisten waren schnell und in großer Zahl von den Tienener Fabriken, an der Spitze die Zuckerraffinerie , "formal" eingestellt worden. Offiziell konnte die Stadtverwaltung keine Arbeitslosen mehr liefern! .....
Tausende von Männern, die aufgerufen wurden, um zur Zwangsarbeit registriert zu werden, versammelten sich in der Kaserne oder auf dem Markt der Zuckerstadt, wo scheinbar "vor Ort" noch eine endgültige Auswahl oder Kontrolle wegen der Arbeitsfähigkeit stattfand.... Es sah aus wie auf einem Sklavenmarkt!
Die angeforderten Arbeiter hatten einige Kleidungsstücke, Essgeschirr und Essen in einen Sack gepackt, um die Reise ins Unbekannte zu beginnen. In einigen Gemeinden war hierfür eine Liste vorhanden: "1 Kopfbedeckung, 1 Halstuch, 1 Ziviljacke, 1 zivile Hose, ein Paar Stiefel oder Schuhe, 2 Hemden, 2 Paar Strümpfe, 1 wasserdichte Decke als Schutz vor dem Regen, 1 Handtuch, 1 Essschüssel, 1 Essbesteck, 2 Schlafdecken ..."
Sie mussten für 24 Stunden zu essen mitbringen, da die Bahnfahrt umständehalber länger dauerte und sie nichts zu essen bekamen, bereits ein "Geschmack" von dem, was später in den Lagern folgte .....
Die Spitze der Besatzungsverwaltung in Brüssel hatte dafür gesorgt, dass die Abschiebung nur die ärmsten Bevölkerungsgruppen betraf und damit die Unmündigen. Hierdurch wollte man den Widerstand so gering wie möglich halten.
Darüber hinaus zeigten diese zwei Deportationstage, dass mehr als die Hälfte der aufgerufenen Bürger durch die Maschen des Netzes rutschten und nach Hause zurückkehrten, wenn sie beweisen konnten, dass sie Arbeit hatten und nicht von den Leistungen der öffentlichen Unterstützung lebten. Alte Männer, Kranke und Väter von großen Familien waren "grundsätzlich" ausgenommen. Wahrscheinlich spielten auch "gute Beziehungen", die richtigen Papiere von Arbeitgebern oder bestätigte ärztliche Bescheinigungen eine große Rolle. Einige konnten sich mit falschen Angaben zu ihrem Beschäftigungsstatus herausreden, standen unter hohem Schutz oder hatten andere, manchmal zweifelhafte Argumente, um der Beschlagnahme zu entgehen...." (S. 51/52)


"....Nach der 'Musterung' wurden die unglücklichen 'Auserwählten' in Reihen und unter schwerer Bewachung deutscher Soldaten, um Fluchtversuche zu verhindern, zum Bahnhof eskortiert und in den Zug gesetzt. Die deportierten Arbeiter wurden eindeutig als Gefangene betrachtet und unter Zwang transportiert! Die Deportierten hielten sich jedoch tapfer, einige sangen die 'Brabaconne'. Die Stimmung war hoch .... noch nicht wissend, welche Entbehrungen sie erwartete!" (S. 53)
 

"....Die Niedergeschlagenheit in unseren Dörfern war groß, auch führte diese widerliche Zwangsmaßnahme zu einer Menge Unmut und zu Rissen durch unsere ländlichen Gemeinden. Die betroffenen Familien waren empört und fanden, dass ihnen Unrecht angetan wurde, weil ihr Sohn oder Mann nach Deutschland musste und die von den Nachbarn nicht!
Manchmal wurde auf den Gemeinderat mit dem Finger gezeigt, dennoch hatte der alles Mögliche getan, um nicht zuzulassen, dass die Deportationen geschahen oder sie mindestens zu verlangsamen (was ihm viele Geldstrafen einbrachte), aber er konnte nicht den Befehlen der unerbittlichen deutschen Besatzungsverwaltung ausweichen und wurde verpflichtet, die angeforderten Namenslisten auszuhändigen.
Selbst deutsche Soldaten der örtlichen Besatzungstruppen, die mit "Heimweh" kämpften, waren eifersüchtig auf diese belgische Bürger, weil sie lieber selbst in ihre "Heimat" zurückkehren wollten!
Dann gab es den Aspekt des abfälligen Urteils der nicht betroffenen Familien und von schlecht informierten Dorfbewohnern, besonders am Anfang. Vor allem Familien, deren Angehörige ihr Leben für das Vaterland als Soldat an der Front eingesetzt hatten, betrachteten die Deportierten besonders argwöhnisch. Sie fanden es ungerecht und verdächtig, denn diese Männer gingen, um schließlich für den Feind zu arbeiten, und sie würden dann auch noch gut dafür bezahlt werden, nicht wahr? Auch wurden Familien der Deportierten unter Druck gesetzt und bedroht.
Trotzdem war es nicht die Schuld dieser als wehrfähig angesehenen jungen Männer, dass sie nicht in der belgischen Armee waren, weil die meisten Deportierten 1914 wirklich noch zu jung waren, um sich anzuschließen, und andere wurden nicht rechtzeitig von den belgischen Streitkräften mobilisiert, zum Teil wegen der überraschend schnellen Besetzung des größten Teils Belgiens durch die feindlichen Kräfte..." (S. 56)


 

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